Das Nonplusultra in Sachen Beethoven: Jan Lisiecki mit der Academy of St. Martin in the Fields, das Bild entstand im Berliner Konzerthaus bei der CD-Produktion. © Peter Rigaud
Eine scheue Geste, etwas abgewendet vom Parkett. Jan Lisiecki klappt den Tastendeckel zu, ganz vorsichtig. Es ist ein Signal ans jubelnde Publikum: Nichts geht mehr. Wie sollte es auch nach diesem fünften Klavierkonzert, in dem der Steinway zwischendurch zum Schlagwerk wird? Als ob nun keine Rücksicht mehr genommen werden muss aufs Nachstimmen und ähnliche Vorsichtsmaßnahmen. Alle Fesseln sind abgestreift, es ist das atemberaubende Finale dreier denkwürdiger Abende.
Dreimal hat Lisiecki die Isarphilharmonie zu Standing Ovations gebracht, zusammen mit der Academy of St. Martin in the Fields (wir berichteten). Alle fünf Beethoven-Konzerte plus das Tripelkonzert als Dreingabe. In Letzterem, es ist am dritten Abend, versteht sich Lisiecki als Mann aus der zweiten Reihe, als Sekundant. Der Part, das wird Beethoven ja gern angekreidet, ist im Vergleich zur übrigen Hinterlassenschaft überschaubar.
Umso mehr Raum bleibt für Tomo Keller, den Konzertmeister der Academy, der mit feiner, seidiger Noblesse gestaltet, und für Daniel Müller-Schott, der solch großen, ausdrucksmächtigen Cello-Ton einsetzt, als sei das Opus ganz allein für ihn geschrieben.
Im fünften Klavierkonzert nach der Pause kann man nochmals Lisieckis Kunst bestaunen. Manchmal spiegelt die sich nur in wenigen Takten. Zum Beispiel schon in den rauschhaften Eröffnungsläufen, in denen der 29-Jährige eine ganze Reihe von Kulissenwechseln unterbringt. Lisiecki spielt die Nummer fünf in seiner klanglichen Expansion tatsächlich als erstes großes Virtuosenkonzert der Romantik. Doch der Furor ist strukturiert, der Klang extrem definiert. Das ist wirkungsbewusst, allerdings nie als Inszenierung gedacht. Ein tiefgründiger Rausch. Wie schon am ersten Abend bei Nummer eins und drei ist Lisiecki viel zu sehr Stilist, der Mann muss und will nicht mit Effekten abräumen.
Dass sich Academy und Lisiecki schon lange mit den Stücken beschäftigen, seit ihrer CD-Aufnahme von 2020, merkt man. Da ist einerseits Verfeinerung, andererseits Neugier. Die alten Schlachtrösser des Repertoires begegnen einem in dieser Münchner Woche wie erfrischt und neu trainiert. Erst recht übrigens in den langsamen Sätzen. Es ist auffallend, wie Lyrisches von Lisiecki konturiert wird, wie er zielgerichtet bleibt, es sich nicht wohlig einrichtet etwa im Adagio von Nummer fünf.
Ein Solist als selbstbewusster Poet
Dem zweiten und vierten Klavierkonzert kommt das erst recht zugute. Nummer zwei (historisch gesehen Beethovens erstes Klavierkonzert) wird von Lisiecki und der Academy weggetrieben von einer bloß gefälligen Vorstufe. Viel Zug und Brio ist spürbar, dazu gibt es eine sehr ausgekostete Kadenz im Kopfsatz. Und Nummer vier, diesen Beweis führen Orchester und Solist, ist viel weniger elegisch als gedacht und gewohnt. Da ist zwar viel Nachdenklichkeit, aber ebenso viel innere Unruhe. Lisiecki spielt das Stück (auch im zweiten Satz, im berühmten Dialog mit dem Orchester) nie vergrübelt oder melancholisch, hier tritt einem ein selbstbewusster Poet entgegen.
Zur Wahrheit gehört auch: Nicht alles an diesem zweiten Abend ist optimal verzahnt. Lisiecki fällt manchmal im Tempo nach vorn, als ob da einer Panik hat vor einer Überdosis Romantik. Am Spiel der Academy kann man sich in den drei Programmen nicht satthören. An ihrer Flexibilität, am durchlüfteten Klangbild, an der nie präpotenten Dramatik. Solistische Aktion und Kollegialität sind in fast idealer Balance. Man braucht, auch das zeigen die drei Abende, keine Originalinstrumente oder die Dogmen der historischen Aufführungspraxis für eine geistreiche Klangrede. Überhaupt ist Lisiecki (nicht nur bei Beethoven) ein begnadeter Rhetoriker. Ein Jammer, dass sich er und Nikolaus Harnoncourt um gute zehn Jahre verpasst haben.
Jeder der drei Abende bekommt eine aparte Einladung. Die Academy spielt Werke von Komponistinnen der gemäßigten Moderne. Nach „Parade“ der 1958 geborenen Errollyn Wallen ist es im zweiten Programm „Stride“ von Anna Clyne, Jahrgang 1980, die Beethoven-Fragmente verlötet und übermalt. Im dritten Konzert legen die musikantisch gelaunten Bläser in „Seascape“ von Ruth Gipps (1921-1999) einen Wellenritt hin. Wer den fulminanten Auftakt zum Münchner Konzertjahr verpasst hat: Orchester und Solist touren mit den Beethoven-Konzerten weiter, zwischen Hannover, Hamburg, Nürnberg, Innsbruck, Bern und Toronto. Ein Höllenritt.
MARKUS THIEL