Durch das verlassene Rom geht der Papst in Corona-Zeiten am 15. März 2020 und pilgert zum Pestkreuz. © Vatican Pool (2)
Brisante Papiere übergab Benedikt seinem Nachfolger.
Jorge (l.) 1941 mit Mutter, Oscar und Marta. © Privat
Hoffnung – trotz allem: Papst Franziskus hebt zuversichtlich den Daumen in die Höhe. © Siciliani/KNA/Vatican POOL/Getty IMAGES
Wer, wenn nicht ein Papst, glaubt an die göttliche Vorsehung? Und die beginnt bei Papst Franziskus am 11. Oktober 1927, neun Jahre vor seiner Geburt als Jorge Mario Bergoglio in Buenos Aires in Argentinien. Damals verpassten seine Großeltern und sein Vater Mario ihre Überfahrt von Genua nach Südamerika, weil sie es nicht geschafft hatten, rechtzeitig alles zu verkaufen.
Welch ein Glück! Denn das Schiff Mafalda ging vor Brasilien unter – wie die Titanic mit musizierendem Orchester bis zum Schluss, mit hunderten von toten Passagieren – meist Migranten aus Italien. Die Bergoglios mussten ihre „Fahrt nach Argentinien aufschieben. Aus diesem Grund bin ich heute hier“: Papst Franziskus beginnt seine Autobiografie mit einem Paukenschlag – der Schilderung eines Untergangs als Vorspiel für sein bemerkenswertes Leben.
Das Buch, das heute auf Deutsch und in 79 weiteren Ländern erscheint, ist alles andere als die trockene Chronik eines Priesterlebens. Mit Co-Autor Carlo Musso ist es Franziskus gelungen, eine kurzweilige Autobiografie vorzulegen, eine „Reisetasche“ voller Erinnerungen, wie er selber das Buch nennt. Unter dem Titel „Hoffe“ erzählt der Papst so lebendig aus seinem Leben, dass der Eindruck entsteht, er spreche mit dem Leser. Es ist Franziskus’ Vermächtnis auf 384 Seiten. Eigentlich sollte es erst nach seinem Tod veröffentlicht werden. Aber das laufende „Heilige Jahr der Hoffnung“ habe ihn bewogen, es schon jetzt zu präsentieren. Wie geschickt: So setzt er schon zu Lebzeiten Maßstäbe für die Einordnung seines Lebenswerkes.
Dass der heute 88-jährige Papst aus einer Migrantenfamilie stammt, erklärt seine Aufmerksamkeit für Geflüchtete, Vertriebene und die Schwächsten. Seine Familie kennt die Armut, verliert in der Weltwirtschaftskrise alles und muss drei Jahre nach Ankunft in Argentinien ganz von vorne anfangen. Diese Erfahrungen sind fast 70 Jahre später der Grund für seine erste Reise als Papst auf die Insel Lampedusa, wo hunderte von Bootsflüchtlingen starben. „Auch ich hätte zu den Ausgeschlossenen von heute gehören können, daher trage ich im Herzen immer diese eine Frage: Warum sie und nicht ich?“ Die Sorge um die Benachteiligten zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Er wendet sich gegen die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ und stellt fest: „Den Armen verzeiht man nichts, nicht einmal ihre Armut.“
Dass Franziskus Details aus der geheimen Papstwahl ausplaudert, ist pikant: Schließlich verpflichten sich die Kardinäle vor dem Konklave zur Geheimhaltung. Er berichtet, dass offenbar versucht wurde, mit Hinweis auf seine angegriffene Gesundheit seine Wahl zu verhindern. So habe ihn ein Kardinal gefragt: „Fehlt Ihnen nicht ein Lungenflügel?“ Bergoglio räumte ein, dass ihm der obere Teil eines Lungenflügels wegen drei Zysten entfernt worden sei – doch das war 1957. „Da wurde der Mann knallrot im Gesicht und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: ,Immer diese Manöver in letzter Minute!‘“ Eine Szene, wie maßgeschneidert für den aktuellen Film „Konklave“. Der fünfte Wahlgang musste 2013 wiederholt werden, weil ein überzähliger Stimmzettel auftauchte. Doch dann hatte der Argentinier mehr als die erforderlichen 77 Stimmen. Als ihn der brasilianische Kardinal Claudio Hummes umarmte und ihm zuflüsterte: „Vergiss die Armen nicht“, traf ihn der Satz ins Mark: „In diesem Moment kam mir der Name Franziskus in den Sinn.“
Im Buch erfährt der Leser, warum Franziskus nicht im Apostolischen Palast wohnen will, dass er Leben um sich herum braucht. Dass er eine einfache Beerdigung möchte, keine Beisetzung im Petersdom. Nach drei schweren Operationen – der Lungen-OP in jungen Jahren und zuletzt zwei schweren Darm-OPs – fürchtet sich der 88-Jährige nicht vor dem Tod. Doch er lässt den Leser teilhaben an seinen Ängsten. An Gott wendet er sich mit den Worten: „Es geschehe, wann immer Du willst. Aber Du weißt ja, dass ich einigermaßen zimperlich bin, was körperliche Schmerzen angeht … Also bitte, mach, dass es nicht allzu wehtut.“
Klare Worte findet Franziskus gegen Heuchelei in der Kirche. So rechtfertigt er die in seinem Schreiben „Amoris laetitia“ 2016 aufgezeigte Möglichkeit, dass auch Geschiedene Zugang zu den Sakramenten bekommen und Homosexuelle gesegnet werden dürfen. „Es ist schon merkwürdig, dass niemand Anstoß nimmt, wenn ein Unternehmer einen Segen erhält, der die Menschheit ausbeutet – was eine schwere Sünde ist –, es aber zum Skandalon erhebt, wenn der Papst eine geschiedene Frau oder einen Homosexuellen segnet.“ Und er fügt hinzu: „Der Protest gegen diese Form der pastoralen Öffnung offenbart häufig solche Formen der Heuchelei.“ Na bitte!
Franziskus erlaubt einen Einblick in die päpstliche Geheimdiplomatie. Berichtet, dass er bei Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 persönlich zur Botschaft der russischen Föderation gelaufen ist, um die Einstellung des Bombardements gefleht habe und sich als Mediator angeboten habe. „Ich stand und stehe weiterhin zur Verfügung.“ Auch beim Gefangenenaustausch hat er sich eingeschaltet.
Die Reform der Kurie betrachtet der Papst als sein „aufwendigstes Stück Arbeit“, das auch den meisten Widerstand hervorgerufen habe. Sein Verhältnis zum Vorgänger Benedikt XVI. beschreibt er als tief und authentisch. „Im Gegensatz zu den Mythen, die manche Leute sich zurechtspinnen, hat er mir bis zum Schluss geholfen, mich beraten, mich unterstützt und verteidigt.“ Zu Beginn seines Pontifikats übergab ihm Benedikt einen großen Karton mit Akten zum Missbrauch, zu Korruptionsfällen, „all den dunklen Momenten und den entsprechenden Missetaten“. Er, Benedikt, habe Vorkehrungen getroffen, jene Menschen aus dem Dienst zu entfernen. „Nun ist das deine Aufgabe“, habe ihm sein Vorgänger gesagt.
Selber scheint Franziskus derzeit (noch) nicht an einen Rücktritt zu denken. Er geht offen mit seinen Erkrankungen um, den gefährlichen Darmentzündungen und der „körperlichen Demütigung der Knieschmerzen“. Aber er nimmt’s gelassen: „Die Kirche lenkt man mit Herz und Kopf, nicht mit den Beinen.“
Anekdoten aus der Kindheit – dass er als 15-Jähriger seinem Onkel mit dem Wassersyphon ins Gesicht spritzte, weil der sich abschätzig über Arme geäußert hatte –, Papstwitze und der frühe Rat einer Frau, sich einen Hund als Vorkoster zuzulegen, sollte er jemals Papst werden, sorgen für amüsante Momente. Dass er Fehler gemacht hat in seinem Leben, räumt Franziskus ein. Die Fälle von sexuellem Missbrauch nennt er „unsere Schande und unsere Demütigung“, „Verbrechen wie diese dürfen nicht verjähren“. Er macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung der alten Liturgie, die für ihn nicht Freude an der Tradition bedeutet, sondern „blanke Zurschaustellung von Klerikalismus“. Christen seien nicht rückwärtsgewandt.
Dass Franziskus 2013 als Reformpapst gestartet ist und viele Katholiken inzwischen enttäuscht von ihm sind, wird in „Hoffe“ nicht thematisiert. Aber wie schreibt Franziskus: „Die Kirche wird weiter voranschreiten. In ihrer Geschichte bin ich nur ein Schritt.“
CLAUDIA MÖLLERS
Papst Franziskus:
„Hoffe“.
Kösel-Verlag, Kempten,
384 Seiten; 24 Euro.