Krimi, Mystery und Horror mixte Lynch in der Serie „Twin Peaks“: Szene mit Kiefer Sutherland (li.) und James Marshall. © Ullstein
Rätselhaftes um eine verlorene Identität thematisiert „Mulholland Drive“ mit Naomi Watts (li.) und Laura Harring. © Studiocanal
Das größte Geheimnis Hollywoods, ein kultisch verehrter Erschaffer unergründlicher Bilderstürme: David Lynch starb am Donnerstag im Alter von 78 Jahren. © VALERY HACHE
„Das Leben ist kompliziert, warum sollten Filme es also nicht sein?“ Eine rhetorische Frage, die der rätselhafte David Lynch jenen stellte, die seine Filme enträtseln wollten. Lynch hatte eine tiefe Abneigung dagegen, sein eigenes Werk zu erklären. Vielleicht kann er es auch gar nicht, nach eigenem Bekunden arbeitet er rein intuitiv. Für ihn sind seine undurchdringlichen Filme völlig schlüssig.
Traumatisches zieht sich durch sein Werk
Das Problem für die Zuschauer – sie sind nicht David Lynch. Deswegen können sie leider nicht einmal ahnen, was für den Regisseur eine Geschichte ergibt, während sie oft nur eine Aneinanderreihung von faszinierenden Sequenzen sehen, die bestenfalls lose miteinander verbunden sind. Am Donnerstag ist Lynch im Alter von 78 Jahren an einer unheilbaren Lungenkrankheit gestorben.
Dass Lynch einmal das größte Geheimnis Hollywoods, ein kultisch verehrter Erschaffer unergründlicher Bilderstürme werden würde, darauf deutet lange nichts hin. Er ist ein unauffälliger, angepasster Jugendlicher, der, so schildert das Lynch später, erst mit „20 oder 21“ beginnt, sein Gehirn zu benutzen. Er beschließt, Kunst zu studieren, er will Maler werden. Weil er mit 22 Jahren Vater wird, muss er allerdings nebenher Hilfsjobs annehmen, um die Familie über Wasser zu halten, unter anderem als Zeitungsbote.
Lynch studiert in Philadelphia, die dortige Akademie hat einen hervorragenden Ruf. Aber die Stadt ist ein hartes Pflaster, für das Landei Lynch eine traumatische Erfahrung, die sich wie ein roter Faden durch sein Werk ziehen wird. Armut, Gewalt, Kriminalität, all das setzt ihm zu. Kaum zieht er mit seiner Familie in sein Haus, wird er dort ausgeraubt, die Fenster werden zerschlagen, das Auto gestohlen und ein Kind in der Nachbarschaft erschossen.
Das Gefühl der Hilflosigkeit, des Kontrollverlusts treibt ihn um. Nach einigen experimentellen Kurzfilmen, die bei Mitstudenten und Professoren gut ankommen, geht er schließlich sein Filmdebüt an: „Eraserhead“. Es wird ein sagenumwobener Erstling, an dem er mit einem Minibudget fast drei Jahre lang arbeitet. Die Geschichte über den Antihelden, der sich in einer trostlosen zerfallenen Industrielandschaft um sein missgebildetes Baby kümmert, entzieht sich jeder Kategorie, begeistert aber viele Kollegen und erarbeitet sich durch unzählige Mitternachtsvorstellungen über Jahre ein begeistertes Publikum.
Hollywood wird auf Lynch aufmerksam und gibt ihm 1980 die Chance, einen „echten Film“ zu machen: „Der Elefantenmensch“. In Schwarz-Weiß und ohne anbiedernde Sentimentalität berührt der Film jeden und macht aus Lynch das Wunderkind der Branche, er wird sofort für den Oscar nominiert. Lynch findet das alles etwas merkwürdig, beschließt aber, Kinoregisseur zu bleiben, bis dahin hat er Zweifel, ob das der richtige Beruf für ihn ist. Er sieht sich als Künstler, beim Film dreht es sich immer nur ums Geld.
Lynch entscheidet sich gegen das Geld. Er lehnt „Star Wars“ ab und andere Prestigeprojekte, weil er auf dem „Final Cut“, der Kontrolle über das Endprodukt, besteht. 1986 gelingt ihm mit „Blue Velvet“, einer morbiden Gangsterballade mit exzellenter Besetzung, wieder ein weltweiter Hit, der die Kritik ebenso verstört wie begeistert. Mit der legendären Fernsehserie „Twin Peaks“ setzt er in den frühen Neunzigern neue Maßstäbe für TV-Serien, unter anderem mit der Verweigerung einer nachvollziehbaren Auflösung all der Fragen, die in der Serie aufgeworfen werden.
In seinen Kinofilmen treibt Lynch seine Ablehnung konventioneller Erzählmuster voran, was unter Kritikern, Publikum und Kollegen die Frage aufwirft, ob er ein Genie sei oder einfach nur gaga. Er versteht die Diskussion nicht so recht: „Die Menschen können sich einfach nicht damit abfinden, dass das Leben keinen Sinn hat.“ Lynch, großer Fan der Surrealisten, bildet genau dieses vergebliche Suchen nach einem Sinn so faszinierend ab wie kein anderer seiner Generation. Er liefert den Rohstoff, aus dem andere später zugänglichere Waren fertigen. Das Infragestellen von Realitäten, die Vermengung verschiedener Bewusstseinszustände, all das ist längst im Kino und auf Streamingdiensten angekommen, Lynch war die Inspiration. Und wenn er es völlig anders macht, irritiert er noch mehr. In „Straight Story“ erzählt er davon, wie ein Farmer 400 Kilometer auf einem Rasenmäher zurücklegt, um sich mit seinem Bruder auszusöhnen. Was man sieht, ist das, was passiert, und dennoch sorgt es für Aufruhr. Warum dreht Lynch, Meister des Uneindeutigen, so etwas Simples?
Ein Rätsel, das gar keines sein wollte
Lynch erklärt sich wie gewohnt nicht und verfolgt stattdessen unzählige andere Projekte. Er malt, macht Musik, dreht Videospots und revolutioniert den DVD-Markt: Seine Filme dürfen nicht in Kapitel unterteilt werden, die man gezielt ansteuern kann. Ein Film muss als Gesamtes gesehen werden. Und selbstverständlich findet er es grauenvoll, wenn man Filme auf dem Computerbildschirm oder – Gott bewahre – auf dem Smartphone ansieht. Gegen Ende seines Lebens widmet sich Lynch der Transzendentalen Meditation. Mit Feuereifer treibt er die Gründung von 100 Zentren weltweit voran. Damit würde man die Kriminalität beenden, Kriege sowieso. Er ist absolut davon überzeugt, ebenso wie er überzeugt von Ronald Reagan und Barack Obama war. Ein Rätsel, das gar keines sein wollte, ist nach längerer Krankheit gestorben. Ein Ausnahmekünstler, einer, der missverstanden wurde, und es wohl auch sein wollte, ist gegangen. Es ist niemand in Sicht, ihm nachzufolgen.
ZORAN GOJIC