Gespräch zur Premiere: Sofiia Melnyk (li.) mit unserer Mitarbeiterin Ulrike Frick. © Marcus Schlaf
„Oh Schreck!“ dreht sich um den Nosferatu-Darsteller Max Schreck, hier gespielt von Johanna Kappauf. © Armin Sailovic
Vom linken Bühnenrand aus begleitet Sofiia Melnyk die Produktion „Oh Schreck!“ mit ihren Bildern. © Marcus Schlaf
Düster und schaurig geht es zu in den Münchner Kammerspielen. Für seine Vampirkomödie „Oh Schreck!“ kombiniert Hausregisseur Jan-Christoph Gockel Elemente und Figuren aus Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilmklassiker „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ von 1922 mit Momenten aus der Biografie des Hauptdarstellers Max Schreck (1879-1936), der dem Grafen Orlok sein unvergleichliches Gesicht lieh.
In den Jahren rund um Murnaus Film war Schreck als Schauspieler an den Kammerspielen engagiert, die man damals unter der Intendanz von Otto Falckenberg ähnlich wie momentan scheinheilig besorgt als „Traditionstheater in der Krise“ sah. Heute erinnert man sich nur ehrfürchtig an diese Zeiten. Was liegt also näher, als den untotesten aller Untoten aufzuwecken, damit er dem gegenwärtig angeblich „blutleeren Theater“ ordentlich Biss verleiht?
Jan-Christoph Gockels Inszenierungen wie „Der Sturm/ Das Dämmern der Welt“, ein wilder Mix aus Shakespeare und Werner Herzog, bieten immer ein Maximum an Schauwerten, gerne mit tiefer gehendem Nachhall. Ein kleiner Blick in die Proben zu „Oh Schreck!“ bestätigt das: Es ist eine Menge los auf der Bühne. Man sieht Blutsauger und Puppen, Videofilme, Lichteffekte, beachtliche artistische Einlagen. Und Live-Zeichnungen, die direkt auf der Bühne angefertigt werden.
Zuständig dafür ist die aus Kyjiw stammende Illustratorin und Animationskünstlerin Sofiia Melnyk. Jan-Christoph Gockel kennt sie seit dem großartigen Theaterprojekt „Green Corridors“ vom Frühjahr 2023. Die Collage über Krieg und Vertreibung aus der Perspektive von vier Ukrainerinnen war Melnyks erste Arbeit für die Kammerspiele. Sie selbst kam nicht erst im Zuge der russischen Invasion nach Deutschland, sondern studierte bereits zehn Jahre zuvor an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg.
Angefangen hatte Sofiia Melnyk eigentlich als Mathematikstudentin. Doch mit jedem Semester zeigte sich klarer, dass sie das viel weniger begeisterte als die Zeichnungen, die sie in ihrer Freizeit anfertigte. Als ein Beinbruch sie für zwei Monate ans Bett fesselte, hatte die junge Frau Zeit, neue Pläne zu fassen: „Ohne eine solche unfreiwillige Pause vom Alltag hätte ich mich vielleicht nie getraut, meinen Wünschen nachzugehen.“ Nach der Ausbildung zur Illustratorin und Animatorin in der Ukraine zeichnete sie Plattencover, Bücher und gestaltete erste Kurzfilme. Dort kommt es auch zu den ersten Kooperationen mit Theatern, sie arbeitet für das Gogol Fest und das Dakh Theatre. Um sich im Bereich Animation weiterzubilden, zieht sie schließlich nach Ludwigsburg. Dort gründete sie mit ihrer Kommilitonin Janina Putzker das feministische Kunstkollektiv „Kinky Udders“, deren originelle Animationen auf Instagram zu sehen sind.
Während der Pandemie nahm die Idee der Live-Illustrationen schnell professionellere Formen an. „Niemand konnte in Kyjiw ins Theater. Also nahmen die Schauspieler Filme für Youtube auf.“ Aber sie erkannten schnell, dass klassische Lesungen online zu wenig Schauwerte bieten. „Man brauchte mehr Unterhaltungselemente. So kam ich ins Spiel. Ich habe von meinem Tablet zu Hause live die Lesung mit meinen Illustrationen begleitet.“ Eine ganze Reihe ist da entstanden zu übergeordneten Themen wie Poesie, Märchen oder Weihnachten.
Die Idee, ein Theaterstück live auf der Bühne zeichnerisch zu gestalten, wurde konkreter: „Ende Mai 2022 wollten wir bei einem Theaterfestival in Mariupol auftreten. Das Konzept stand schon, als im Februar 2022 die russische Invasion begann“, fasst Melnyk nüchtern zusammen. Statt in Mariupol findet ein erster Bühnenabend mit Live-Zeichnungen schließlich am Deutschen Theater Berlin statt. Thema ist nun Putins Überfall auf die Ukraine. „Wir haben versucht, die Horrorbilder aus der Presse künstlerisch zu bearbeiten und allegorisch zu verstärken.“
Ähnlich arbeitet Sofiia Melnyk jetzt auch in „Oh Schreck!“ Sie sitzt am linken Bühnenrand, stilecht im Vampirkostüm, und begleitet mit ihren Bildern die Geschichte. Was da zu sehen sein wird, ist während der achtwöchigen Probenarbeit im Zusammenspiel mit Jan-Christoph Gockel entstanden. Manchmal sind das Zwischentitel wie im Stummfilm. Manchmal aber auch ganz Überraschendes. Spannend und aufregend wird es auf alle Fälle.
ULRIKE FRICK
Premiere
von „Oh Schreck!“ ist morgen,
20 Uhr, im Schauspielhaus
(ausverkauft); weitere Informationen unter www.muenchner-kammerspiele.de.