PREMIERE

Mit Tempo in den Gewaltstaat

von Redaktion

Hinreißend lässig: „Sankt Falstaff“ im Münchner Residenztheater

Allein an der Boazn-Bar: Myriam Schröder. © SANDRA THEN

Geht dem Geliebten an die Gurgel: Falstaff (Steven Scharf. li.) und Harri (Johannes Nussbaum). © SANDRA THEN

Ein Coup ist dem Bayerischen Staatsschauspiel mit der Auftragsarbeit „Sankt Falstaff“ geglückt, die am Mittwochabend im Residenztheater Uraufführung feierte (gut drei Stunden inklusive Pause). Auftragsvergabe ist ein löbliches Unterfangen, werden doch Dramatikerinnen und Dramatiker unterstützt und neue Stücke initiiert. Aber oft scheinen diese Texte dem Hirnkastl mühsam abgerungen, und man ahnt schon bei der Premiere, dass dieses Werk wohl keine Bühnenkarriere machen wird.

Ganz anders bei Ewald Palmetshofers „Sankt Falstaff“, das bereits beim Lesen überzeugt. Der Österreicher, der Dramaturg am Resi ist, schreibt nicht nur präzise auf seine theatralen Wünsche hin, sondern ist politisch topaktuell und verführt mit seinen sinnenfrohen, spielerischen und klugen Versen (!), ihm zu folgen. Deren Rhythmus ist derart flott und frech, dass sämtliche Rapper giftgrün vor Neid werden müssten. Das ist beim Lesen ein intelligenter Spaß. Und wenn erst Steven Scharf, Johannes Nussbaum, Steffen Höld, Myriam Schröder, Vincent Glander, Lukas Rüppel, Niklas Mitteregger und Isabell Antonia Höckel das mit souveräner Lässigkeit sprechen, feinsinnig unterstützt vom Musikanten-Duo Benedikt Brachtel und Sven Michelson, ist man hingerissen.

Es ist wieder einmal die Kunst, die tröstet – einfach weil es sie gibt. Zugleich verweigert „Sankt Falstaff“ jede Chance zum Eskapismus. Palmetshofer greift ein paar Figuren und Szenen aus William Shakespeares Drama „King Henry IV“ (um 1597) heraus, lässt die Schlachten samt dem Adels-Hickhack weg, um in einem undefinierbaren Heute unbeirrt auf die Analyse der Diktatur an sich zuzusteuern. Dafür verquickt er Strategien des argumentativ raffinierten Elisabethaners mit denen des argumentativ plakativen Bertolt Brecht. Und kommt zu treffenden Vers-Aussagen, die manchen Historiker und manche Politologin alt aussehen lassen.

Für die griffige, temporeiche Inszenierung von Alexander Eisenach baute Daniel Wollenzin ein so praktisches wie aussagekräftiges Bühnenbild. Die Boazn-Pissrinne – John Falstaff rettet hier Harri, dem Herrscher-Spross, das Leben – schwebt bei Bedarf vor die Drehbühne. Diese vereint, was sich in einem Gewaltstaat gegenseitig bedingt: aufsteigend der Thronsaal des Usurpators Heinz mit einem Boden, der dem Deckengemälde des Residenztheaters (Fred Thieler) entspricht, und einem riesigen Überwachungsbildschirm; unten der Wellblech-Club von Frau Flott im Slum. Hoffnung gibt es kaum noch in dem ausgebluteten Land. Schräg wie die Vokuhilas und die Kostüme von Claudia Irro zwischen Rockmusiker-/SM-Latex und grotesken Renaissance-Elementen, die den schwarzen Humor der Verse aufnehmen.

Herz des Stücks ist John, der als Einziger noch an die Liebe glaubt und sie zu leben versucht. Steven Scharf – endlich wieder in München zu sehen! – ist folglich das Herz der Inszenierung. Zum Glück muss er nicht den Klischee-Falstaff mit Wampe geben, sondern einen großen Verlorenen, Suchenden, Philosophierenden, Verrottenden, Liebenden. Dabei bremsen ihn die hier mal sinnvollen (zu lauten) Videos und also Regisseur Eisenach aus. Die Filme machen die Total-Kontrolle spürbar, allerdings ein vielschichtiges Schauspielen platt. Scharf und der stählerne und schillernde Johannes Nussbaum als Harri lösen das Medienproblem so gut wie möglich. Ohne das übrige engagierte und bestens aufgelegte Ensemble wären die beiden natürlich nichts, zumal Ewald Palmetshofer allen Darstellenden – fünf spielen je zwei Rollen – glänzende Auftritte geschrieben hat. Solidarisch, rücksichtsvoll und kreativ geht’s einfach besser, immer und überall. Begeisterter Applaus.
SIMONE DATTENBERGER

Nächste Vorstellungen

am 26. Januar, 4., 15., 21. Februar; Karten: 089/21 85 19 40 und tickets.staatstheater.bayern.

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