Schirmer 1976 mit einer Wanne von Joseph Beuys.
Schnipp-schnapp: Model Jerry Hall schneidet Schirmer 2011 bei der Vorstellung einer Foto-Biografie den Schlips ab. © Fotos: Klaus Haag, Isolde Ohlbaum/laif
In seinem Element: Lothar Schirmer ging bei der Präsentation von Kunstbänden neue Wege. © Philipp Guelland
Tu felix Bavaria – wart’ einfach ab! Natürlich gibt es allerhand tolle autochthone Bayerinnen und Bayern; aber wir haben hier schon oft ein echtes Massl mit unseren Zuagroasten, vor allem den kunstnarrischen. Zu ihnen gehört das Geburtstagskind, das wir an diesem Samstag zu seinem Achtzigsten hochleben lassen: Lothar Schirmer, Kunstsammler, Verleger und Mäzen. Er hat nicht nur über Jahrzehnte mit der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau und den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen für Ausstellungen (Leihgaben, Ankäufe) und Bildbände zusammengearbeitet, sondern er hat sie auch beschenkt. Die renommierte Joseph-Beuys-Abteilung im Ateliertrakt der Lenbach-Villa gäbe es ohne Schirmer in dem Umfang nicht.
Lothar Schirmer wurde am 1. Februar 1945 in Schmalkalden geboren und wuchs im Rheinländischen sowie in Bremen auf, machte Abitur und studierte Betriebswirtschaftslehre. Mit 16 habe er jedoch eine „postpubertäre Marotte“ entwickelt, erzählte Schirmer in einem Gespräch mit unserer Zeitung. Das war die Kunst, und sie wurde sein Schicksal. Der junge Kerl muss ganz schön zäh gewesen sein – von wegen „Marotte“: kein Schwärmer, dem schnell der Atem ausgeht. Er sammelte, den Geldbeutel im Blick, Zeichnungen und informierte sich systematisch. Dafür war naturgemäß die Documenta von 1964, die Nummer drei, perfekt.
Zehn Tage habe er in Kassel in der Tankstelle eines Bekannten seines Vaters übernachten dürfen, und jeden Tag sei er zur Weltkunstausstellung gegangen: „Ich bin dort umhergeschweift wie jemand, der durch die Wiese wandert und die Botanik beguckt.“ In ihr fand Schirmer allerdings auch Werke, die ihm gar nicht gefielen, und zwar Kleinplastiken von Beuys, dessen Zeichnungen doch so wunderbar waren: „Ich dachte ja zuerst, dass da drei Haufen Scheiße liegen. Das war aber das feinste, das ausgeklügeltste Stückchen Kunst – sicher, in brauner Farbe…“ Die „Bienenköniginnen“ (Bienenwachs auf Holzbrettchen; Nummer I kaufte Lothar drei Jahre später) verpassten dem Jüngling die heilsamen Stiche, die ihn zur aktuellsten, Aussage-intensivsten Kunst brachten und seine Sinne nachhaltig schärften.
Beuys, instinktiv Schirmers Kunstliebe richtig einschätzend, unterstützte den blutjungen Sammler und blieb ihm immer treu. Und der wiederum unterstützte als Verleger erst in Köln, dann in München den Künstler, der einst kaum publizistisch vertreten war. Schirmer, der im Verlagsgeschäft gearbeitet hatte, ging 1972 nach München. Die Aufbruchsstimmung in der Stadt hatte es ihm angetan. Zwei Jahre später gründeten er und der Werbefachmann Erik Mosel den Schirmer/Mosel Verlag, der, wie berichtet, im vergangenen Jahr seinen 50. Geburtstag feierte. Da man sich auf Kunstbücher spezialisierte, konnte Schirmer endlich Kunst, Leben und Geschäft vereinigen. Das tut er bis heute mit Herzblut und Pragmatismus, Humor und Wagemut.
Vor 50 Jahren bedeutete das zum Beispiel, Fotobände herauszubringen, obwohl wenige die Fotografie als Kunstgattung wahrnehmen wollten. Lothar Schirmer war darin ebenso Pionier wie bei Beuys (40 Bücher) oder Cy Twombly (39), sein zweiter Hausgott, dem er ebenfalls als junger Hupfer 1964 eine Zeichnung abgerungen hatte, oder bei den kühlen Fotoserien von Hilla und Bernd Becher (29). Heute bedeuten Humor und Wagemut, dass im Verlag Hennen ihren Auftritt haben. Obwohl sie die Schätzchen von Isabella Rossellini sind, doch eine kleine Verrücktheit (die in Bayern ein großer Erfolg sei). Dass Literatinnen und Literaten wie Michael Krüger Herzensergießungen zu ihren Lieblingskünstlern oder „Gemalten Tieren“ niederschrieben dürfen; oder dass es unterhaltsame Interview-Bücher mit Zeitzeugen der Münchner Kunstgeschichte des vergangenen halben Jahrhunderts gibt wie mit Ex-Galerist Franz Dahlem und Lothar Schirmer selbst.
Dieser ist durch seine Vorlieben nicht allein mit den Münchner Kunsthäusern von der Neuen Pinakothek bis zum Fotomuseum im Stadtmuseum verbandelt, sondern auch mit der hiesigen Filmszene zwischen Hanna Schygulla und Werner Herzog. Bei allem Lokalpatriotismus muss man indes betonen, dass der Jubilar eine internationale Größe ist. Seine Art, Kunstbände zu machen, war wegweisend, was Qualität und Profil angeht, insbesondere bei der Präsentation von Fotografie. Darüber hinaus ist er bei aller Kühnheit stets sinnenfroh geblieben: zwischen opulenter Mode und sexuell aufgeladenen Szenerien. Und so werden am Samstag vielfältige Charaktere Lothar Schirmer gratulieren: von Frida Kahlo bis Yves Saint Laurent, von Hanne Darboven bis Robert Mapplethorpe, von Marilyn Monroe bis Heinrich Zille.
SIMONE DATTENBERGER