Sie will überraschen: Andrea Arnold. © imago stock
Auf dem Weg in ein anderes Leben? Bailey (Nykia Adams) und ihr arbeitsloser Vater, gespielt von Barry Keoghan) schlagen sich so durch. Der Film „Bird“ erzählt davon. © Atsushi Nishijima/House Productions
Seit der Oscar-Auszeichnung für ihren umwerfenden Kurzfilm „Wespen“ (2003) hat sich die britische Filmemacherin Andrea Arnold, die selbst aus prekären Verhältnissen stammt, als Spezialistin für authentische, fesselnde, warmherzige Sozialstudien etabliert. Dabei gelang ihr das Kunststück, gleich dreimal den Preis der Jury in Cannes zu gewinnen – für „Red Road“, „Fish Tank“ und „American Honey“. Wir sprachen mit der 63-jährigen Drehbuchautorin und Regisseurin über ihren neuen Film „Bird“, der morgen in die deutschen Kinos kommt. Schauspiel-Debütantin Nykia Adams spielt darin die toughe Teenagerin Bailey, die mit ihrem arbeitslosen Vater (Barry Keoghan) in einer besetzten Bruchbude haust und eines Tages auf den sanftmütigen Streuner Bird trifft. Verkörpert wird dieser schräge Vogel von Franz Rogowski, der ab 2015 jahrelang im Ensemble der Münchner Kammerspiele war.
Sie haben mal gesagt, dass bei all Ihren Filmen jeweils ein bestimmtes Bild die Initialzündung sei. Wie sah das bei „Bird“ aus?
Es war ein Bild, das schon vor langer Zeit in meinem Kopf herumspukte: das Bild eines schlanken Mannes mit langem Penis, der nackt auf einem Hausdach steht. Ich fragte mich: Was macht er da oben? Warum hat er keine Kleider an? Ist das ein Engel? Ein Alien? Dieses Rätsel war mein Ausgangspunkt für „Bird“.
Haben Sie das auch Franz Rogowski gesagt, als Sie ihn für diese Rolle gecastet haben?
Selbstverständlich. Er ist intelligent genug, um zu wissen, dass das mit dem langen Penis nur symbolisch gemeint war. Franz war mir aus Filmen wie „Transit“ ein Begriff. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Szene, in der er einfach nur eine Straße hinunterlief: Die Art, wie er ging, faszinierte mich. Im Casting verströmte er eine zauberhafte Energie, sodass ich instinktiv spürte, dass er genau der Richtige war für die Titelrolle. Bei den Dreharbeiten entpuppte er sich als toller Schauspieler – und darüber hinaus auch als wunderbarer Mensch.
Er hat erzählt, er habe von Ihnen nie ein vollständiges Drehbuch bekommen.
Keiner meiner Akteure bekommt das komplette Drehbuch zu lesen, sondern immer nur ein paar Seiten: die Szenen, die am jeweiligen Drehtag anstehen. Ich arbeite viel mit Laiendarstellern – und die wären überfordert, wenn sie sich ständig über das große Ganze Gedanken machen müssten. Insofern finde ich es nur konsequent und fair, den Schauspiel-Profis auch nicht mehr zum Lesen zu geben als den Laien. Außerdem tötet es die Spontaneität, wenn man weiß, was als Nächstes geschieht und wie die Geschichte ausgeht. Das weiß man ja im wirklichen Leben ebenso wenig. Manchmal weiß ich das sogar bei meinem Film nicht so genau.
Dabei stammt das Drehbuch doch von Ihnen.
Ja, aber ich drehe stets chronologisch. Das hat unter anderem den großen Vorteil, dass ich jederzeit das Drehbuch verändern und auf Dinge reagieren kann, die am Set passieren. Ich folge ohnehin nie irgendwelchen dramaturgischen Erfolgsrezepten: Ich möchte sowohl mich als auch das Publikum ständig aufs Neue überraschen. Darum pflanze ich die Kamera auch nie auf ein Stativ oder auf Schienen, sondern arbeite nur mit Handkamera, damit die Akteure sich völlig frei und spontan bewegen können.
Eines der faszinierendsten Phänomene bei Ihren Filmen ist die unglaubliche Natürlichkeit, mit der sowohl Profis als auch Laien agieren: Man fühlt sich beinahe wie in einer Doku, nicht wie in einem Spielfilm. Was ist Ihr Geheimnis? Präzise Dialoge? Freie Improvisation?
Beides. Ich schreibe durchaus extrem ausgefeilte Dialoge, und einige zentrale Sätze sind mir tatsächlich auch sehr wichtig. Aber in den meisten Fällen bin ich offen, wenn Darsteller etwas mit eigenen Worten ausdrücken wollen. Details sind oft unwichtig – Hauptsache, die Essenz der jeweiligen Szene wird möglichst glaubhaft vermittelt.
Und wie gelingt es Ihnen, sogar im hässlichsten Umfeld immer wieder schöne Details zu entdecken?
Ganz einfach: indem ich genau hinschaue. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich Schönheit überall finden lässt, selbst in der deprimierendsten Umgebung. Für mich ist das ein sehr tröstlicher Gedanke. Manchmal strahlt die Schönheit sogar noch heller, wenn die Lebensumstände besonders finster sind. Man muss nur seine Augen öffnen!