Ein Herz für Sonderlinge

von Redaktion

Takis Würger erzählt in „Für Polina“ eine zarte Liebes- und Lebensgeschichte

Prägnant im Ton: Takis Würger stellt „Für Polina“ am 13. Mai in München vor. © imago stock

Während eines Herbstgewitters steht der achtjährige Hannes Prager im Mondschein an einem alten, verstimmten Klavier und spielt Tschaikowskys Sonate in cis-Moll. Hannes hatte nie Klavierunterricht. Er kennt die Melodie von den Schallplatten, die der alte Hildebrand abends vor dem Zubettgehen auflegt. Lange schläft Hannes nur ein, wenn er Chopins erstes Klavierkonzert hört. Das Kind ist mit einem absoluten Gehör gesegnet. Doch diesen Umstand versteckt es gern vor der Welt.

Augenscheinlich ist Hannes Prager ein wundersamer Junge. Ein Baby, das nie schreit. Ein Kleinkind, das sich lieber auf dem Arm der jugendlichen Mutter einkringelt, als die Welt um sicher herum zu entdecken. Ein verträumter, fast verhuschter Schüler, dem bald unterstellt wird, zurückgeblieben zu sein. Ein schüchterner Teenager, der sich nur für Musik interessiert. Hannes mag tatsächlich kein großer Denker sein, vor allem nicht im Vergleich zu seiner besten Freundin Polina. Polina ist das Gegenteil von Hannes: blitzgescheit, aufgeweckt, mutig. Hannes und Polinas Mütter lernten einander kennen, als beide ihre vaterlosen Kinder zur Welt brachten. Fritzi, die Abiturientin, und Günes, die resolute Türkin, freundeten sich an und blieben Freundinnen.

Dass Hannes nicht wundersam, sondern besonders ist, erkennen zunächst nur seine Mutter und der alte Hildebrand, in dessen mehr oder minder besetzten Villa die beiden untergekommen waren, als Hannes noch ein Baby war. Und natürlich Polina. Für sie komponiert er seine erste Klaviersonate. Wobei er sie nicht niederschreibt. Hannes Prager denkt in Melodien. Er braucht keine Noten. So wenig er seine Gedanken und Gefühle in Worte fassen kann, so treffend und ergreifend kann er Beobachtungen in Tönen ausdrücken.

Der Held in Takis Würgers neuem Roman „Für Polina“ ist auf herzerwärmende Weise ein Sonderling. Aber auch auf bedrückende Weise: Vielleicht hätten sich die Pläne von Hannes’ Vater verwirklicht, dem Marmorhändler aus Hamburg, den Fritzi viele Jahre nach ihrer gemeinsamen Nacht in Lucca darüber in Kenntnis setzt, dass er einen Sohn hat. Er hält den Jungen für ein Wunderkind, vergleichbar mindestens mit Mozart, das gefördert werden muss. Hannes möchte nicht gefördert werden. Als seine Mutter plötzlich stirbt und er auf ihrer Beerdigung ans Klavier gedrängt wird, wird es das vorerst letzte Mal sein, dass Hannes spielt.

Die Freundschaft zu Polina übersteht die folgenden Jahre nicht. Die beiden finden einfach nicht zueinander, verlieren übers Erwachsenwerden ihre kindliche Unschuld und schließlich einander aus den Augen. Dabei ist Hannes Prager unsterblich in Poli verliebt. Er gibt sich seinem Selbstmitleid hin, über den Verlust der Mutter und die Tatsache, dass seine große Liebe spurlos verschwunden ist. Als sein Vater stirbt, erkennt Hannes endlich, dass er Polina suchen muss. Und alles, was er aufbieten kann, um sie zu finden, sind ihre Melodie und sein Klavierspiel.

Takis Würger erzählt die Liebesgeschichte zwischen Hannes und Polina, er erzählt aber auch die Lebensgeschichte des jungen Hannes Prager, der völlig aus der Norm fällt. Beides tut er auf einfühlsame und berührende Weise, ohne in erwartbaren Kitsch oder Stereotype abzugleiten. Wie sein Protagonist trifft der Autor behutsam und prägnant den Ton. Was „Für Polina“ zu einer zarten Leseperle voller liebenswert andersartiger Figuren macht.
KATHRIN BRACK

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