Als wäre es das letzte Mal – so tanzt das Ensemble Pina Bauschs „Frühlingsopfer“. © S. Gherciu
Von der klassischen Musik bis zu reinen Klangräumen, vom Realismus in der bildenden Kunst bis zur Abstraktion – und im Bühnentanz? Ja richtig, auch da gibt es nach und neben dem traditionellen Ballett freie Bewegungsformen. In der Ballettfestwoche (10. bis 16. April im Münchner Nationaltheater) sehen wir unter dem Titel „Wings of Memory“ („Flügel der Erinnerung“) Jirí Kyliáns „Bella Figura“ (1995, seit 2002 hier im Repertoire), Sidi Larbi Cherkaouis „Faun“ (2009) und Pina Bauschs „Das Frühlingsopfer“ (1975). Drei Werke aus einem Zeitraum von 34 Jahren und – das ist der Kernpunkt – mit je ganz eigenem Stil. „Und alle drei sind in ihrer Schönheit und ihrer Vitalität charakteristisch für die Tanzkunst unserer Zeit“, sagt Ballettchef Laurent Hilaire.
In „Bella Figura“ (eine „gute Figur“ abgeben) bewegen sich fünf Tänzerinnen und vier Tänzer zu Barockmusiken auf einer nächtlich dunklen Bühne. Es sei „eine Reise durch Zeit, Raum und Licht“, so Kyliáns sparsamer „Wegweiser“. Klingt ganz so, als ob man diesen Kylián wieder neu entdecken könnte. Das gilt auch für die Tanztheater-Koryphäe Pina Bausch (1940-2009). Das Staatsballett erwarb bereits 2016 von ihr „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ (2002). Aktuell nun von Bausch „Das Frühlingsopfer“ (1975). Kurz zur Geschichte: „Le sacre du Printemps“, Nijinskys kühne Choreografie zu Strawinskys Partitur, war bei der Pariser Uraufführung 1913 ein Skandal – galt jedoch bald als bahnbrechendes Meisterwerk. Der Inhalt: ein heidnisches Ritual, bei dem zur Feier des Frühlingsanfangs eine Jungfrau sich selbst opfernd zu Tode tanzt. Bausch ging das Ur-Libretto von Strawinsky und Nicholas Roerich psychologisch an. Sie fragte ihr Ensemble: „Wie würden Sie tanzen, wenn Sie wüssten, dass Sie sterben werden?“
Eine neue Sicht auf einen Klassiker gibt es auch in Sidi Larbi Cherkaouis „Faun“. Der international gefragte Choreograf, seit 2022 Ballettchef am Grand Théâtre de Genève, holte Nijinskys „Nachmittag eines Fauns“ zu Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ näher in die Gegenwart. Nijinsky hatte sich an griechischer Vasenmalerei orientiert, blieb so choreografisch eher zweidimensional, im Ausdruck dennoch erotisch. Bei Cherkaoui ist der Faun halb Tier, halb Mensch: in seinem Wesen unbeschwert, sinnlich verspielt in der Begegnung mit der Nymphe. Die Debussy-Partitur wird dabei von Komponist Nitin Sawhney zeitgenössisch ergänzt. Bei der Uraufführung am Londoner Sadler’s Wells Theatre 2009 kreierten James O’Hara und Daisy Phillips die beiden Rollen. Seitdem in mehreren Tanz-nahen Tätigkeiten international aktiv, haben sie hier Cherkaouis „Faun“ einstudiert. Wir durften in die Probe reinschauen: Ganz junge Ensemble-Mitglieder versuchen sich da an einer vertrackten Bodenfigur – ein akrobatischer Balance-Akt bei nur minimaler Körperberührung als spielerische Tollkühheit von Faun und Nymphe. „Ja, das ist Cherkaouis Art“, sagen die beiden. „Das Ausprobieren von waghalsiger zirzensischer Bewegung, die ständige Suche nach neuen Gesten, Figuren.“ Allerdings arbeite er anders, wenn er für klassische Ensembles choreografiere. Für die Bayerische Staatsoper inszenierte er 2016 Rameaus „Les Indes galantes“, 2019 Glucks „Alceste“. Im selben Jahr gab Cherkaoui sein Broadway-Debüt als Choreograf für das Musical „Jagged Little Pill“. Und wir erinnern uns an das Münchner Gastspiel von Cherkaouis „Sutra“ (von 2008) mit 18 Mönchen aus einem Shaolin-Kloster.
Noch eine Notiz zum Festwochen-Gastspiel „Lost Letters“ des Lucia Lacarra Ballets: Die ehemalige Staatsballett-Prima (von 2002 bis 2016) und ihr Partner, der renommierte Matthew Golding, gründeten 2023 ihre Compagnie. Sie und acht Ensemble-Mitglieder erzählen eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg – vom verloren gegangenen Brief eines Soldaten. Ballettfans werden das sicher nicht versäumen wollen.
MALVE GRADINGER
Premiere
von „Wings of Memory“ ist am 10. April; weitere Vorstellungen sind am 11., 12., 14., 15., 16. April.