Pulverfass Palästina: Die Zuwanderung jüdischer Siedler seit den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts führte zu Spannungen mit der arabischen Bevölkerung der Region. © Picture Alliance
Unsere Nachrichten sind erfüllt von dem Krieg in Nahost, vom Terrorangriff der Hamas, den Massakern in 21 Kibbuzim, der Ermordung von Besuchern eines Open-Air-Musikfestivals. Der 7. Oktober 2023 hat sich eingebrannt in unser Gedächtnis. Über 1100 Tote, mehr als 5500 Verletzte, 250 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Von nun an heißt das oberste Gebot: Bringt die Geiseln, bringt unsere Brüder, Schwestern, Kinder, Mütter, Väter nach Hause zurück! Alles Weitere ist bekannt.
Das ist kein neues Szenario. Terror, Gewalt, kriegerische Auseinandersetzungen gehören seit mindestens hundert Jahren zur Legende eines angestrebten Zusammenlebens von Juden und Moslems auf dem Gebiet des einstigen Palästina. Jede Seite rechtfertigt ihren historischen, durch ihren Glauben legitimierten Anspruch auf diesen Teil der Welt.
Wir Heutigen wissen Bescheid über die Gründung des Staates Israel, über seine allgegenwärtige Bereitschaft, ihn zu verteidigen. Doch die Hoffnungen und Tragödien, die sich vor der Staatsgründung abgespielt haben, sind den meisten kaum bewusst. Bei Hanser ist jetzt „Palästina 1936. Der große Aufstand und die Wurzeln des Nahostkonflikts“ erschienen. Autor ist der in Tel Aviv lebende US-amerikanische Historiker Oren Kessler (43). Ein aufschlussreiches, erhellendes, notwendiges Buch, das die Problematik des Zusammenlebens von Juden und Palästinensern en détail darstellt. Dabei immer eingebettet in die jeweils aktuelle weltpolitische Lage.
Mit der zionistischen Bewegung unter Führung von Chaim Weizmann, dem ab 1949 ersten israelischen Staatspräsidenten, erfuhren die frühen jüdischen Siedlungen in Palästina bereits vor dem Ersten Weltkrieg besondere Aufmerksamkeit. Das Miteinander damals gestaltete sich weitgehend friedlich. Die geopolitischen Ergebnisse des Ersten Weltkriegs – die Herrschaft der Engländer und Franzosen, die sich über die Aufteilung des arabischen Raums geeinigt hatten, und insbesondere das britische Mandat für Palästina – machten dieses Land zu einem Pulverfass. Der britische Außenminister Arthur James Balfour rief zur Gründung „einer nationalen Heimstätte der Juden in Palästina“ auf, vorausgesetzt, „die bürgerlichen und religiösen Rechte der Nichtjuden des Heiligen Landes würden nicht beeinträchtigt“.
Die Zuwanderung nahm in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre rasant zu. Während sich das jüdische Leben in Richtung Normalität entwickelte, wurde der Kampf der Palästinenser gegen die „Landnahme“ – Mitglieder der palästinensischen Elite verkauften vielfach anonym Grundbesitz an Juden – immer aggressiver. Gräueltat folgte auf Gräueltat – auf beiden Seiten.
Kein Ende, kein Frieden in Sicht. Oren Kessler lässt die großen Männer dieser Zeit aufmarschieren, die bedeutendsten von ihnen sind der spätere erste Ministerpräsident Israels, David Ben-Gurion („Wir wollen die Mehrheit werden“) und auf palästinensischer Seite Musa Alami („Ich sehe keinen Grund, auf dieser Basis überhaupt zu verhandeln“). Und dennoch fanden diese Männer, die einander sehr achteten, eine gewisse Übereinstimmung, indem Musa Alami die Forderung Ben-Gurions nicht rundweg ablehnte: einen jüdischen Staat innerhalb einer arabischen Föderation und eine gleichberechtigte Exekutivgewalt.
Ein Experiment, das scheiterte. Seinen verbrecherischen Beitrag leistete vor allem der von den Engländern eingesetzte und mit den Nazis paktierende Groß-Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini. Die Machtübernahme Hitlers, die Nürnberger Gesetze und der drohende Kriegsbeginn verschlimmerten den politischen Zustand in Palästina. Jüdische Flüchtlinge strömten ins Land. Es kam zur Eskalation, zum Großen Arabischen Aufstand 1936. Drei Jahre sollte er dauern und mit der Niederlage der Palästinenser enden.
Musa Alami, diese außerordentliche Führungspersönlichkeit der Araber, schickte 1967, nach dem Sechstagekrieg, per Interview eine Botschaft in die Welt. Sie richtete sich direkt an seine israelischen Nachbarn und, so Autor Oren Kessler, hallt durch die dazwischen liegenden Jahrzehnte nach. Wenn er noch leben würde, klänge sie wohl genauso: „Ihr seid nunmehr im Rausch des Sieges, und wir bleiben unter dem Geist der Besiegten und Unterdrückten. Folglich befinden wir uns beide in unnormalen Gegebenheiten… Ihr denkt nicht an die Zukunft – ihr denkt nur über die Gegenwart nach. Und wir denken nicht über die ferne Zukunft nach – nur über unser derzeitiges Leid. Aber ich bin, noch heute, überzeugt, dass dieses Land die Chance auf Frieden hat.“
SABINE DULTZ
Oren Kessler:
„Palästina 1936“. Aus dem
Englischen von Norbert Juraschitz. Hanser Verlag, München,
384 Seiten; 28 Euro.