CD-KRITIK

Sinn und Sinnlichkeit

von Redaktion

Raphaël Pichon mit Bachs h-Moll-Messe

Und wenn die Toten doch nicht auferstehen? Wenn alles nur biblische Behauptung ist? Eine Stelle in der h-Moll-Messe gibt es, da driftet Johann Sebastian Bach in den Unglauben. Ziellos wandert die Musik zu den Worten „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ durch die Tonarten. Ein Abtasten, Prüfen, ein im Doppelsinn unerhört modernes und vielsagendes Aufgeben der harmonischen Basis. Bei Raphaël Pichon ist noch mehr zu hören. Andere nehmen die Stelle im geisterhaften Piano, hier erlebt man ein Flehen im Forte, Klang gewordene Angst – bis die Musik verebbt. Ein Nichts. Das war’s wohl mit der Verheißung des Jüngsten Gerichts.

(Nicht nur) Bach-Fans wissen Bescheid: Die Auferstehung platzt dann doch im Freudentaumel los. Bei Pichon ein fiebriger, übertouriger Tanz, der mehr als Erleichterung signalisiert. Viele solche doppelbödigen Stellen gibt es in seiner Aufnahme der h-Moll-Messe. Dass der Franzose, polyglotter Junggroßmeister der historischen Aufführungspraxis, irgendwann beim Höhepunkt der Kirchenmusikgeschichte landen würde, war klar. Weniger, dass er mit dieser Einspielung auch Hör-Erwartungen unterläuft.

Pichons Ensemble Pygmalion zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie offensiv musizieren. Nicht wie andere aus der Alten Musik, die Entschlackung als Veganes missverstehen. In der vollsaftigen Klanglichkeit trifft sich Pichon da mit John Eliot Gardiner. Hier, in der h-Moll-Messe, ist das etwas anders. Natürlich werden die prachtvollen Dur-Stellen ausgekostet, der Beginn des Gloria oder das Sanctus zum Beispiel. Doch nie ist das Überwältigung. Es gibt keinen Moment in dieser Interpretation, der auf den Effekt schielt. Auch in der größten Verdichtung werden Stimmverläufe wie im Röntgenbild nachvollziehbar. Im Zweifelsfall sind Eleganz und Stilbewusstsein wichtiger als Kraft und Druck.

Wie weit sich Pichon von den Urvätern der Aufführungspraxis wegbewegt, zeigt sich in den Tempi. Man höre nur das erste „Kyrie“, das „Gratias“ oder das „Et incarnatus est“. Vor zehn, zwanzig Jahren hätten dies Puristen noch als Romantizismus gegeißelt. Bei Pichon ist es vielmehr: eine Meditation. Und ein behutsames, zugleich wissendes Abschmecken der Bach’schen Zutaten. Die Spiritualität des Werks wird hier fast körperlich erfahrbar, aber auch die Sinnlichkeit Bachs, ja seine KlangErotik: Warum sollte sich in barocken Partituren anderes abspielen als in den fleischlichen Genüssen barocker Gemälde?

Pichon gewinnt dadurch Fallhöhe im Vergleich zu schnellen Nummern. Die sind weniger Vorführung von Virtuosität, dieser Furor wird von innen nach außen entwickelt. Feingliedrig, exquisit und doch ungeheuer selbstbewusst. Dass das Solo-Ensemble mit Julie Roset, Beth Taylor, Lucile Richardot, Emiliano Gonzalez Toro und Christian Immler handverlesen ist, versteht sich von selbst. Alles Charakterstimmen, kein Gesang von der Stange. Mit der h-Moll-Messe untermauert Pichon seinen Rang. Der umstrittene John Eliot Gardiner mag seine Karriere mühevoll mit Ensemble-Neugründungen verlängern, doch der Thronwechsel ist längst vollzogen.
MARKUS THIEL

Johann Sebastian Bach:

Messe in h-Moll. Pygmalion, Raphaël Pichon
(harmonia mundi).

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