Bis zu den Sternen

von Redaktion

Die Kunsthalle München zeigt „Civilization – Wie wir heute leben“

Der Münchner Thomas Mandl zeigt die Arbeit „Förster im Nasslager“. © Oliver Bodmer

Der Olympiapark voller „Swifties“: Kunsthallen-Chef Roger Diederen vor Manuel Pickers Drohnen-Foto, das während des Konzerts von Taylor Swift entstanden ist. © Oliver Bodmer

„Gewaltig ist vieles, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch.“ Michael Najjars „orbital ascent“ aus dem Jahr 2016 erinnert an das Zitat von Sophokles. © Michael Najjar

Am Anfang blickt man aus der Astronautenperspektive auf die rotierende Weltkugel. Und im letzten Saal der Ausstellung schreiten wir über ein fußbodenfüllendes Bild kosmischer Weiten hinweg, das vom Hubble-Teleskop stammt. Aber die spacige Rahmung scheint konsequent, denn wenn ein Tourismus-Manager die Bewohner ferner Galaxien zum Urlaub auf dem Planeten Erde motivieren wollte, würde er den Reiseprospekt sicher mit Bildern dieser Schau füllen: „Civilization – Wie wir heute leben“ heißt die imponierende Foto-Ausstellung, die zum 40-jährigen Bestehen der Kunsthalle München dort Station macht. Das Panorama aus 200 Werken internationaler Spitzenfotografen ist gigantisch. Schwer vorstellbar, dass ein Alien solcher Werbung für den Trip zum blauen Planeten widerstehen könnte. Und gerade diese verführerische PR-Anmutung der Ausstellung selbst spiegelt am deutlichsten den Charakter unserer Zivilisation.

Aus menschlicher Perspektive ist die Schau eine Bekundung des Stolzes, mit dem unsere Gattung zeigt, wie wir’s „so herrlich weit gebracht“ haben. Bis zu den Sternen nämlich: Michael Najjar fotografierte eine Rakete beim Start, die mit schäumenden Kondenswolken aufsteigt, und feiert so nicht nur technische Kraftentfaltung, sondern den – ebenso ambivalenten – Drang der Grenzüberschreitung, des Ausgreifens in neue Dimensionen. Weniger kosmisch, sondern komisch gebrochen wirkt das Pathos auf Olaf Otto Beckers Bild: Touristen mit sommerlicher Kleidung stehen in einer Eiswüste herum und knipsen. Dank ihrer irrealen Schneelicht-Stimmung erzeugt die Szenerie einen Eindruck des verstörend Erhabenen – als würde gerade aus der Beschränktheit, ja Lächerlichkeit des Menschen seine eigentliche Würde erwachsen.

Letztlich zelebriert die Ausstellung die Zivilisation unseres gegenwärtigen Hightech-Kapitalismus, der sich über weite Teile des Globus ausgebreitet hat. Denn noch wo diese Bilder inhaltlich dessen negative Seiten wie Armut, Entfremdung, Umweltzerstörung anprangern, sagt ihre Form etwas ganz anderes. Das gemeinsame Merkmal der meisten Exponate ist eine radikale Ästhetisierung, ein Zug ins Monumentale, fast Heroische: Wie Meereswellen laufen die Slumgebiete von Mexiko City in Pablo López Luz’ Luftaufnahme über Hügelketten. Hunderte Arbeiter in rosa Hygieneanzügen stehen an den Fließbändern einer chinesischen Hühnchen-„Fabrik“ als bonbonbunte Armee in geordneten Schlachtreihen, aufgenommen von Edward Burtynsky. Genauso symmetrisch lichtete Candida Höfer die wunderschöne RokokoBibliothek des Stiftes St. Florian ab. Unzählige Fensterwaben farbiger Hochhausfronten wiederum fügen sich bei Michael Wolf zum konstruktivistischen Gemälde; eine bewegte, bunte Menschenmenge verwandelt Cyril Porchet zur abstrakten Farbkomposition, wo der Einzelne im Strudel der Masse aufgeht, und Manuel Picker fotografierte per Drohne den menschenübersäten Münchner Olympiapark beim Taylor-Swift-Konzert vergangenes Jahr. Dutzende Schwarzafrikaner, zusammengedrängt in einem Flüchtlingsboot, werden bei Francesco Zizola zum dynamischen Wirbel aus Leibern, der dem kunstvollen Figuren-Arrangement eines Barockmalers bei der Darstellung des Jüngsten Gerichts gleicht.

Fast meint man manchmal einen Hauch von Ernst Jünger und Leni Riefenstahl in all der Überhöhung des Schreckens und der Massenpsychose zu spüren. Auch Zerstörung ist Gestaltung, verkünden die Fotos durch die Feierlichkeit ihrer Komposition, in der das Faszinosum nachzittert, das von der Entfaltung selbst destruktiver physischer oder ökonomischer Energien ausgehen kann. Insofern wirken all diese Bilder wie ein modernes Echo der berühmten Verse des alten Griechen Sophokles: „Gewaltig ist vieles, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch.“ Vielleicht sollten die Aliens also noch mal überlegen, ob sie mit so einer Spezies in Kontakt kommen wollen. Zumal man Reiseprospekten ja nicht blind vertrauen darf.
ALEXANDER ALTMANN

Artikel 4 von 9