PREMIERE

Die vielen Schwingen des Tanzes

von Redaktion

„Wings of Memory“ eröffnet die Ballettfestwoche im Münchner Nationaltheater

Nah an unserer sportlichen Gegenwart ist die Choreografie „Faun“ von Sidi Larbi Cherkaoui. © S. Gherciu

Eine „Reise durch Zeit, Raum und Licht“ hat Jirí Kylián 1995 in „Bella Figura“ choreografiert. © Katja Lotter

„Wings of Memory“ – „Flügel der Erinnerung“ – ist der neue Dreiteiler des Bayerischen Staatsballetts überschrieben. Ein Titel, der irgendwie wehmütig stimmt, verweist er doch auf Vergangenes. Aber offensichtlich ist es wohltuend, gelegentlich zurückzuschauen. Jedenfalls toste der Applaus im ausverkauften Münchner Nationaltheater nach jedem der drei auch exzellent getanzten Werke.

In Jirí Kyliáns „Bella Figura“ (1995) treffen sich nacheinander Paare: jeweils in einer schlanken Neoklassik, die aber schon in eine postklassische, fast skulpturale Bewegungsart hinübertreibt. Überraschend dabei, dass Kyliáns choreografischer Entwurf – obgleich ja postmodern – wunderbar harmoniert mit und in den Barockmusiken von Pergolesi, Torelli und Vivaldi.

Überraschend ebenfalls die nachtschattige Bühne (von Kylián selbst wie auch das Licht), die sich durch abgesenkte und verschiebende Vorhänge und Zwischenwände ständig verändert. Tatsächlich verwirklicht sich so Kyliáns Idee von einer „Reise durch Zeit, Raum und Licht“. Später versammeln sich die fünf Tänzerinnen und vier Tänzer – zu einer gemeinsamen Feier, alle jetzt einheitlich bekleidet nur mit einem weit schwingenden roten Rock. Dieses ungewohnte „oben ohne“ der Damen erregte zeitweise keusche Gemüter. Mehr Problem war nicht. Das Stück lässt sich nicht ganz erklären, hat etwas geheimnisvoll Kultisches – und wirkt gerade deshalb zeitlos.

Dann Sidi Larbi Cherkaouis „Faun“(2009). Der Belgier aus flämisch-marokkanischer Familie, zurzeit Ballettchef am Grand Théâtre de Genève, ist gleichzeitig international als freischaffender Künstler gefragt. Sein „Faun“ zu Debusssys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ holt die ursprüngliche Nijinsky-Fassung von 1913 näher an unsere sportliche Gegenwart. Cherkaoui mischte zu Debussy auch noch zeitgenössisch zart Flirrendes von Komponist Nitin Sawhney. Und dieser neue Faun erprobt seinen Körper in allen erdenklichen biegsamen Figuren. Verführt dann die ebenfalls flirtig aufgelegte Nymphe zum zirzensisch verspielten „Boden-Pas-de-deux“. Und der gelingt bei António Casalinho und Margarita Fernandes mit solistischem Formgefühl.

Zuletzt „Das Frühlingsopfer“ (1975) von Pina Bausch. Am Pult, wie schon bei „Faun“, Andrew Litton. Für den Musikdirektor des New York City Ballet ein München-Debüt. Zur Freude der hiesigen Ballettomanen. Strawinskys Komposition reißt 32 Ensemble-Mitglieder – aber auch uns, die Zuschauer – in diesen stampfenden Rhythmus, der beruhigend verebbt und wiederum aufrührt.

Wie in Nijinkys „Frühlingsopfer“ geht es auch bei Bausch um ein heidnisches Ritual: Zur Feier des Frühlinganfangs muss sich eine Jungfrau selbst opfernd zu Tode tanzen. Aber in Bauschs Version werden auch die Angst, die Zweifel und die selbstrettende Verweigerung der jungen Frauen herausgestellt. Um diesen Kernpunkt choreografierte sie das Verhalten der Gemeinschaft; das Gefangensein in Tradition, das Mitläufertum. Und dies anrührend, künstlerisch, mitreißend – die Strawinsky-Partitur voll ausfüllend.

Was sieht man? Frauen und Männer getrennt in abwartenden Pulks oder zusammen in bühnenfüllendem Kreis. Jetzt wie Krieger vorwärts stürmend, dann gleichsam niedergemäht, ein Feld von ausgestreckten toten Körpern bildend. Und immer zwischendurch Ansätze von Gruppentanz, mit dieser erhobenen, gerundeten Armhaltung, wie man sie vom amerikanischen Modern Dance kennt. Die hat Pina Bausch aus ihrer Zeit in den USA mitgebracht. Das war vor dem Bausch-Tanztheater.
MALVE GRADINGER

Artikel 2 von 10