Wahnwitziges: Katja Jung und Thomas Hauser. © B. Hupfeld
Von der Decke rieselt roter Sand, und manchmal knackt es eher ungemütlich „im Gebälk“. Aber keine Bange, die Akteure auf der Bühne erzählen uns nicht nur, dass der Marstall baufällig ist, sondern erklären im Stil einer Trockenübung auch, wie das Theater im Notfall geordnet zu evakuieren wäre, bevor es einstürzt. Na, das ist doch beruhigend – zumal die Katastrophenstory ja eher metaphorisch den geistigen Zustand des Gegenwartstheaters meint: Ist es „noch relevant oder ein Auslaufmodell“ angesichts der realen politischen Bedrohungen in einer immer irreren Welt?
Abschließende Antworten darauf gibt es zum Glück nicht in dem Bühnenprojekt „77 Versuche, die Welt zu verstehen“, das der südkoreanische Regisseur Kyung-Sung Lee mit den wunderbar konzentrierten Schauspielern Felicia Chin-Malenski, Thomas Hauser, Florian Jahr und Katja Jung entwickelte. Eher gleicht der Abend mit seinen freien Assoziationen aller Beteiligten einer psychoanalytischen Baustelle: Um den Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR geht es da ebenso wie um die Verhängung des Kriegsrechts durch den mittlerweile abgesetzten südkoreanischen Präsidenten; zwischendurch parodieren die Darsteller Internet-Werbespots oder Anrufsendungen im Rundfunk – und beschreiben den Theatersaal im Marstall: „Da ist ein Holzweg an der Decke.“ (Stimmt.)
Immer wieder quäkt auch ein „Brecht-Bot“ aus einem historischen Kofferradio, denn die 77 Abschnitte aus Brechts Aufsatz „Kleines Organon für das Theater“ inspirierten ja den Titel des Abends. Und gegen Ende kommt Thomas Hauser in einem hübsch wahnwitzigen Monolog dann noch zur tiefenpsychologischen Erkenntnis, dass ein klein wenig Trump in jedem von uns steckt. Zu all dem passen die edlen Einheits-Seidenanzüge des Schauspieler-Quartetts, die aussehen, als hätten Lagerfeld und Co. klassische blaue Mao-Klamotten zur Haute Couture hochgetunt.
Wie oft, wenn Regie und Ensemble sich selber ein Stück basteln, haben sie es nicht übers Herz gebracht, Ballast wegzustreichen, der den Abend ausfransen lässt. Trotzdem ist es überwiegend gelungen, das kursorische Nachdenken übers Theater und den Rest der Welt mit poetischen Bildern, zart schwebender Stimmung und sogar leisem Humor zu einer ansprechenden Mischung zu verbinden. „Tempolimit für Gedanken“, lautet das sympathische Motto, das am Schluss mit Kreide auf den Boden geschrieben wird, ehe alle durch einen vorher unsichtbaren Schlitz in der rückwärtigen Projektionsleinwand verschwinden. Langer, herzlicher Applaus.
ALEXANDER ALTMANN
Weitere Vorstellungen
am 16., 26. April und 16. Mai; Telefon 089/ 2185-1940.