Gewissenhafte Beobachterin: Annegret Liepold schildert in ihrem ersten Roman „Unter Grund“, wie ihre Hauptfigur erwachsen wird – und in rechte Kreise gerät. © Daniela Pfeil
Wir wissen nicht, wie Annegret Liepold einst als Schülerin gewesen ist. Ist auch nicht nötig. Denn sicher ist: Ihren ersten Schulaufsatz hat sie über einen Vogel geschrieben. Davon berichtete die Autorin, die 1990 in Nürnberg geboren wurde, unlängst bei der Premiere ihres Debütromans im Münchner Literaturhaus; am Donnerstag stellt sie „Unter Grund“ nun in Oberammergau vor.
Bevor es hier jedoch um diese dicht gewebte, hinreißend unaufgeregt erzählte Geschichte gehen soll, die (auch) in gesellschaftliche Abgründe blickt, bleiben wir kurz bei Liepolds erstem Aufsatz. Schreibend ihrer Umwelt zu begegnen, sei wie ein „Energieschub“ gewesen, erinnert sie sich. Er wirkt bis heute – „Unter Grund“ bezeugt es.
Im Zentrum des Buchs steht Franka, die in München lebt. Als Referendarin besucht sie mit ihrer Klasse den NSUProzess, ein Schüler nennt Beate Zschäpe an diesem Tag eine „Nazischlampe“. Das Wort triggert die junge Frau derart, dass sie nicht nur das Gericht verlässt, sondern auch ihre WG, die Stadt – und zurückfährt in jenes Dorf in Franken, in dem sie groß wurde. Jahrelang hat sie es gemieden.
Wenig überraschend wird aus dieser Reise auch ein Zurückblicken in die Vergangenheit – Frankas, ihrer Familie, ihrer einstigen Freunde, des gesamten Orts, den die Autorin übrigens immer wieder als eigenständige, kollektiv handelnde Person vorstellt. „Viele Orte haben Modell für das Dorf gestanden“, sagt Liepold. Geschickt verwebt sie die Zeitebenen, das Heute und Frankas Erinnerung an die Nullerjahre, konkret: an die Zeit des „Sommermärchens“ 2006, als Deutschland Fußballweltmeister im eigenen Land werden wollte.
Allerdings ist dieser Roman nicht nur eine Coming-of-Age-Geschichte. Die Autorin nutzt die Schilderung vom Erwachsenwerden ihrer Hauptfigur, um sehr viel tiefer zu schürfen – in Frankas Psyche, in der Dorfgemeinschaft. Die Strukturen, die sie dabei zutage fördert, offenbaren en passant, wie Menschen in die rechte Szene abrutschen können.
Dankenswerterweise doziert Liepold an keiner Stelle ihres Romans, sie schaut vielmehr sehr genau hin – und begegnet ihren Entdeckungen und ihren Erkenntnissen über ihre Figuren und deren Umfeld mit den Mitteln der Literatur, wobei vor allem ihr raffinierter Umgang mit Motiven Lesefreude bereitet.
„Was kann ich eigentlich über Rechte erzählen?“, habe sie sich beim Schreiben oft gefragt. „Das ist mir so fremd und fern.“ Und doch ist es ihr hier eindrucksvoll gelungen, aufzuzeigen, wie der Weg verlaufen kann von Party und Freundschaft über Saufen, Prollen, Pöbeln, Provozieren – bis hin zu strammer Propaganda und Verbrechen. „Nichts zwingt sie mitzumachen“, sagt Annegret Liepold über ihre Hauptfigur. „Aber sie geht dennoch immer selbst den nächsten Schritt.“ Das jedoch ist vielleicht die erschreckendste Erkenntnis dieses bemerkenswerten Debüts.
MICHAEL SCHLEICHER
Annegret Liepold:
„Unter Grund“. Blessing-Verlag, München, 256 Seiten; 24 Euro.
Lesung: Annegret Liepold stellt ihren Roman am 24. April, 19 Uhr, im Kulturhaus Hotel Kovèl in Oberammergau vor;
der Eintritt ist frei.