Bewusst nüchtern und gerade deshalb verstörend intensiv agiert das Ensemble von „Offene Wunde“. Hier eine Szene mit Ruth Bohsung und Max Poerting. © Gabriela Neeb
Fast neun Jahre ist es her, dass am 22. Juli 2016 am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München neun Menschen aus rassistischen Gründen getötet wurden. Das in seiner schnörkellosen Prägnanz beklemmende Doku-Drama „Offene Wunde“ von Tunay Önder und Christine Umpfenbach, das am Donnerstag im Volkstheater Premiere feierte, lässt erstmals die Hinterbliebenen zu Wort kommen.
Von ihnen befanden sich viele im Zuschauerraum an diesem hochemotionalen Abend, und im Verlaufe des eineinhalbstündigen Stücks wird deutlich, dass der vor Beginn ausgesprochene Hinweis keineswegs überflüssig war: Wer es nicht mehr aushielt, konnte jederzeit den Saal verlassen und später wieder zurückkehren. „Die Türen stehen immer offen“, betonte Schauspieler Enes Sahin. Die Möglichkeit wurde mehrfach genutzt. Was auch verständlich war – selbst wenn man nicht zu den betroffenen Angehörigen zählte. Denn Ruth Bohsung, Luise Deborah Daberkow, Max Poerting, Enes Sahin und Baran Sönmez spielten ihre wechselnden Rollen bewusst nüchtern und gerade dadurch verstörend intensiv.
Wer damals in München lebte, kann sich an den heißen Sommertag im Juli 2016 vermutlich erinnern, der allein wegen der ungeklärten Nachrichtenlage die gesamte Stadt für Stunden in Aufruhr versetzte. Ob es ein Attentäter war oder mehrere, war lange unklar. Die Überforderung der Polizei blieb ebenso in Erinnerung wie die noch jahrelang behauptete Mär vom in der Schule gemobbten Amokläufer.
Dabei hatte die Tat des jungen Mannes mit iranischen Wurzeln einen deutlich erkennbaren, von ihm selbst im Vorfeld laut geäußerten rassistischen Hintergrund. Um seinem Idol Anders Breivik zu huldigen, beging der im Internet radikalisierte Täter seinen Anschlag am fünften Jahrestag von Breiviks Massaker auf der norwegischen Insel Utoya. Und suchte sich rund um das Fast-Food-Restaurant mit dem großen M am Rande des OEZ bewusst junge Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund aus. Tatsächlich waren Armela, Can, Dijamant, Guiliano, Hüseyin, Roberto, Sabine, Selçuk und Sevda deutsche Staatsangehörige. „Ihre Großeltern“, heißt es an einer Stelle im Text, „kamen zum Arbeiten nach Deutschland“. Sie blieben, um Kindern und Enkeln ein besseres Leben zu ermöglichen. Arbeiteten bei BMW und anderen großen Firmen. Waren stolz auf das Erreichte, in einem Land, das für ihre Nachfahren allmählich zur Heimat wurde. Bis dieser 22. Juli alles zerstörte.
Die Münchner Regisseurin und Autorin Christine Umpfenbach hat bereits einige Dokumentartheaterprojekte zu gesellschaftspolitischen Themen rund um ihren Lebensmittelpunkt gestaltet. „Gleis 11“ befasste sich mit der ersten Generation von Gastarbeitern am Münchner Hauptbahnhof. „Urteile“ mit den Mordopfern des NSU. In „9/26 – Das Oktoberfestattentat“ ging es um die Nachwehen des bekanntesten rechtsterroristischen Attentats auf deutschem Boden und wie die Behörden jahrzehntelang trotz anderer Beweise auf der Theorie des radikalisierten Einzeltäters beharrten.
„Offene Wunde“ führt dieses Engagement sowie die Zusammenarbeit mit der Münchner Autorin Tunay Önder fort. Ausführlich recherchierten die beiden zum Tathergang und erzählen die Nacht des Attentats aus Perspektive der Angehörigen. Da kommt alles in aller Drastik zur Sprache, von der Herablassung der Polizei gegenüber den verzweifelten Eltern über die scheiternde Gerichtsverhandlung bis hin zu den Leerstellen, die jeder Tote hinterlassen hat und die sich wie schwärende Wunden nie schließen werden.
ULRIKE FRICK
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