Sprachspiele für Kopf und Gefühl

von Redaktion

Abkehr von großen Stoffen: Bilanz des Berliner Theatertreffens

Mögen alle Besucher des gestern in Berlin zu Ende gegangenen zweiwöchigen Theatertreffens überlebt haben! Die Sorge der Veranstalter um die Gesundheit ihres Publikums war groß. Gefahr im Verzug! Vor allem bei „[EOL]. End of Life“, der Performance aus Wien. Von einem Besuch wurde schriftlich abgeraten, unter anderem bei: Schwangerschaft, Übermüdung, psychiatrischen Störungen, Epilepsie, Herzerkrankungen, Kopfschmerzen, Migräne, Übelkeit, Herzschrittmachern, Hörgeräten… Ach, am besten, Sie fragen Ihren Arzt oder Apotheker.Mit Grobheiten, wie sie auch in Florentine Holzingers Performance „Sancta“ aus Stuttgart geboten wurden, die Neuerfindung einer weiblichen Schöpfungsgeschichte, haben die meisten Inszenierungen jedoch nichts zu tun. Sie loten sensibel die Dialektik von Trauer, Freude, Glück und Schmerz, von Kampf, Sieg, Leben und Tod aus; kurz alles, was sich widerspiegelt in der menschlichen Persönlichkeit.

Das Publikum konnte mit Kopf und Gefühl teilhaben am grandiosen Sprachspiel von George Perec und Goethe, „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ aus Hamburg, an Brechts „Die Gewehre der Frau Carrar“ aus München und an „Unser Deutschlandmärchen“, inszeniert von Hakan Savas Mican nach dem Roman von Dincer Gücyeter am Berliner Maxim-Gorki-Theater. Ein herzzerreißendes, kritisches, komödiantisches Musical über den schweren Lebensweg einer türkischen Gastarbeiterin und ihres Sohnes. Sesede Terziyan, eine faszinierende Sängerin und Schauspielerin, und der großartige Taner Sahintürk geben unter der Leitung von Bandleader Peer Neumann gesangsmäßig den Ton an.

Eine besonders bejubelte Vorstellung bot mit „Kontakthof – Echoes of ‚78“ das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Die Tanz- und Choreografie-Koryphäe Meryl Tankard hat den berühmten „Kontakthof“ 46 Jahre später noch einmal aufleben lassen, mit sich selbst und acht weiteren Tänzerinnen und Tänzern aus der Uraufführung. Eine so staunenswerte wie meisterhaft poetische Mischung und Überlagerung aus realem Tanztheater der heute über 70-Järigen und originalen Archivaufnahmen: eine Begegnung mit dem jüngeren Ich; eine Auseinandersetzung mit der Zeit.

Das Finale gehörte dem Staatstheater Wiesbaden. Es erzählt die Lebensgeschichte des Jungen Connor (Timur Yann Frey) im Rausch von Sex, Missbrauch, Lust und Gewalt. Das Stück: „Double Serpent“. Der US-Autor: Sam Max. Der Regisseur: Ersan Mondtag. Trotz großen schauspielerischen Einsatzes, vier stattlicher, nackter Statisten-Männer und mit allem, was sonst noch dazugehört, verursachte die Aufführung in ihrer stilistischen Gespreiztheit zunehmend Langeweile. Da erinnert man sich gerne an „Blutbuch“ aus Magdeburg. Auch „Bernarda Albas Haus“ aus Hamburg ist so schnell nicht vergessen. Was also ist das Fazit dieses Theatertreffens? Vielleicht eine zunehmende Hinwendung zum Gehalt von Sprache, zur Bedeutung von Diversität in der Gesellschaft, aber auch eine Abkehr von den großen Stoffen des Welttheaters.
SABINE DULTZ

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