Tür auf zum Träumen

von Redaktion

Giedre Šlekyte gastierte bei den Münchner Philharmonikern

Die Litauerin Giedre Šlekyte dirigierte Werke von Šerkšnyte, Schreker Korngold und Mendelssohn. © Thomas Ernst

Um mal kurz philosophisch zu werden: Steuert der Zeitpfeil auf ein bestimmtes Ziel zu, oder ist alles ein Kreislauf? Giedre Šlekyte scheint auf der Seite des sich selbstgenügenden Augenblicks zu sein: Sie konzentrierte sich am Pult der Münchner Philharmoniker in der Isarphilharmonie aufs Jetzt, statt voranzudrängen.

So kam sie auch wirklich dem naturnahem Verständnis des Dichters Walt Whitman von Vergänglichkeit und hemdsärmliger Sinnlichkeit nahe, statt in der Vertonung durch Franz Schrekers „Vom ewigen Leben“ der spätestromantischen Verklärung und Brunst zu erliegen. Gläsern der Klang, durchsichtig geschichtet. Kein schweres Parfüm, sondern immer ein Ohr für Dissonanzen. Ähnlich die Gestaltung der raffinierten Schlichtheit in vier der „Einfachen Lieder“ Korngolds: Gerade weil das nicht auf Effekt schielte, machte es die Tür zur Transzendenz auf. Ein Ideal, in das sich Sopranistin Chen Reiss gleichgesinnt und wunderbar einfügte. Durch größte Klarheit ins Träumende gelangen: Dies Paradox erlebte man auch bei Raminta Šerkšnytes „Midsummer Song“. In fahlstrahlendem Licht ausgehebelt der Gegensatz von Tag und Nacht, Leben und Tod.

Bei vielen wäre Mendelssohn Bartholdys „Schottische“ Symphonie danach gefällig musikantisch als Sättigungsbeilage gelaufen. Šlekyte ließ die Zügel nicht locker. Auch hier wurde vertikal aufgefächert, wie Melodielinien sich zu Harmonien und Einzelinstrumente zu Klang fügen. Vieles von fast Beethoven‘scher Gedankengetriebenheit, der Theatersturm am Ende des ersten Satzes war bühnenreif. Höhepunkt des Finales: die innige Klarinettenmelodie vor der Coda, Letztere dann ein Triumphlauf – nicht im Jubelsprint, sondern majestätisch.
THOMAS WILLMANN

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