PREMIERE

Unbeschreiblich weiblich

von Redaktion

„Romeo und Julia“ am Münchner Residenztheater

Sie begegnen einander stets auf Augenhöhe: Julia (Lea Ruckpaul) und Romeo (Vincent zur Linden). © Birgit Hupfeld

Am Ende ist es Horatio, der für Julias Exit-Strategie sorgt. Mit jenen Worten, mit denen er sich einst von seinem tödlich vergifteten Studienfreund Hamlet verabschiedete, sagt nun die Capulet ihrem Romeo Adieu; auch ihn hat Gift dahingerafft. Und da sie bereits aus dem „Hamlet“ schöpft, variiert Lea Ruckpaul in diesem Moment für ihre Julia gleich noch dessen berühmteste Frage: „Tot oder nicht tot?“ Wie bei allen Fragen ist „oder“ das bedeutsamste Wort in diesem Satz.

Frauen wie eben Julia werden im klassischen Kanon der Theaterliteratur oft genug beschissen behandelt. Wie wichtig es dagegen Hausregisseurin Elsa-Sophie Jach ist, gerade den weiblichen Figuren ihre individuelle Wahlmöglichkeit sowie die Hoheit über die eigene Entscheidung zurückzugeben, wird bereits zu Beginn ihrer Inszenierung von Shakespeares „Romeo und Julia“ deutlich, die am Freitag am Bayerischen Staatsschauspiel Premiere hatte.

Jach schickt hier die Amme und den Pater aus dem Unterboden auf die Bühne des Residenztheaters – nicht nur durch ihre Spaten zitieren sie die Totengräber-Szene aus „Hamlet“. Derweil blickt eine ergraute, sichtlich gealterte Julia via Video-Projektion in die Tiefe eines Grabes und beginnt ihr Zwiegespräch mit einem Totenschädel. Nur dass der einst eben nicht auf Yoricks Schultern saß, sondern auf jenen Romeos.

Julia ist also davongekommen. Sie hat sich entschieden, nicht dem Geliebten in den Tod zu folgen, sondern ihr Leben weiterzuleben – mit dem Schmerz über den Verlust des Liebsten. Es ist ein spannender Ansatz, den Jach für ihre Interpretation der um 1595 uraufgeführten Tragödie gewählt hat. Ein Ansatz, der sich glücklicherweise nicht nur auf die Emanzipation der Titelfigur konzentriert.

Die Regisseurin arbeitet in diesen drei Stunden (eine Pause) bei (beinahe) allen Frauen das Individuelle, ihr Selbstbewusstsein heraus. Das ist klug, aufregend, erhellend – und funktioniert nicht nur über die Verteilung der Textanteile. Julias Amme beispielsweise trägt bei Shakespeare zwar keinen Namen – die großartige Pia Händler stattet die Figur jedoch mit einer Chuzpe und einem Witz aus, der sie unvergesslich macht. Romeos Spezl Benvolio ist hier so viel mehr als eine Hosenrolle, sondern wird bei Lisa Stiegler zu rasantem Rock‘n‘Roll: weiblich, wahrhaftig, wichtig. Diese Frau steht nicht ihren Mann – diese Frau ist eine Frau und weiß um ihre Stärke.

Das Schöne an der Inszenierung ist, dass Elsa-Sophie Jach nie akademisch wird. Sie begegnet dem Stück zwar mit einer klaren Haltung. „Romeo und Julia“ verkommt bei ihr jedoch nie zum Seminar über Genderfragen, sondern ist hinreißendes und mitreißendes Theater.

Dominik Wiecek hat mit dem Ensemble fantastische (Kampf-)Choreografien erarbeitet, die dem Bürgerkrieg zwischen dem Clan der Capulets und jenem der Montagues einen ordentlichen Anteil Street-Credibility verpassen. Die Musik von Max Kühn liefert – live in der Tiefe des Raumes gespielt – den atmosphärischen Soundtrack zum Gockeln und Geifern, zum Lieben und Leiden, zum Kämpfen und Keilen. Die Bühne ist bis zur Brandmauer aufgerissen und bietet somit Platz für einen weiteren wichtigen Mitspieler: Marlene Lockemann hat eine klug konzipierte und in sich bewegliche Gerüstkonstruktion gebaut, die wie die Menschen beinahe permanent in Bewegung ist. Als Mauer oder Balkon, als Versteck oder Gruft. Hier kommen die Liebenden einander nahe – auch indem sie die entsprechenden Plattformen zueinander schieben, oder sie werden voneinander entfernt. Romeo, den Vincent zur Linden sensibel gestaltet, und Lea Ruckpauls herrlich taffe Julia agieren auf Augenhöhe – pulsierendes Zentrum einer gelungenen Produktion, die mit heftigem Applaus und Standing Ovations bejubelt wird.
MICHAEL SCHLEICHER

Nächste Vorstellungen

am 21. Mai sowie
am 4., 7. und 26. Juni;
Telefon 089/21 85 19 40.

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