INTERVIEW

Auf den ersten Blick verliebt

von Redaktion

Daniele Rustioni dirigiert zwei ihm wichtige Opern

Gefeiert: Dirigent Daniele Rustioni. © Davide Cerati

Und es war Sommer: Turiddu (Jonathan Tetelman) und seine Geliebte Lola (Rihab Chaieb) in der „Cavalleria rusticana“. © Geoffroy Schied

Führende Opernhäuser weltweit reißen sich um ihn: Daniele Rustioni hat mehr als 70 Opern in seinem Repertoire, ist seit 2022 Musikdirektor der Opéra National de Lyon und wurde im selben Jahr bei den International Opera Awards als bester Dirigent ausgezeichnet. Im November ernannte ihn die New Yorker Metropolitan Opera zum Ersten Gastdirigenten – eine Position, die 2021 an der Bayerischen Staatsoper sogar eigens für ihn geschaffen wurde. Nun kehrt der 42-jährige Mailänder ans Pult des Nationaltheaters zurück: Er betreut die Neuproduktion der beiden Kurzopern „Cavalleria rusticana“ und „Pagliacci“. Die Premiere ist morgen.

Wissen Sie noch, wie Ihre Opernleidenschaft geweckt wurde?

Ja, im Teatro alla Scala in meiner Heimatstadt Mailand. Dort stand ich seit meinem zehnten Lebensjahr als Mitglied des Kinderchors auf der Bühne. Unsere Auftritte waren oft relativ kurz: In Arrigo Boitos Oper „Mefistofele“ beispielsweise taucht der Kinderchor nur im Prolog und im Epilog auf. Die zweieinhalb Stunden dazwischen stand ich meist hinter dem Vorhang, wo ich fasziniert das Geschehen auf und hinter der Bühne verfolgte. Samuel Ramey, der Sänger der Titelrolle, steckte mir manchmal ein Eis aus der Kantine zu. Mit 14 wollte ich zwar noch nicht Dirigent werden, doch mir war schon klar, dass ich unbedingt einen Beruf ergreifen musste, der etwas mit Musiktheater zu tun hatte.

Dabei sind eigene Erfahrungen als Sänger sicher äußerst nützlich für einen Operndirigenten.

Definitiv. Mir hat es auch sehr geholfen, dass ich nicht nur Cello, Klavier, Orgel, Komposition und Dirigieren studiert habe, sondern daneben an der Scala als Korrepetitor und Souffleur arbeiten konnte – und als Bariton im Opernchor. Solche Erfahrungen sind heutzutage leider selten geworden: Selbst an renommierten Opernhäusern findet man im Orchestergraben immer öfter Dirigenten, die zwar auf dem Gebiet der symphonischen Musik Koryphäen sein mögen, aber keine Ahnung von Atemtechnik haben, sich nicht in die Kehle eines Sängers hineinversetzen können und sogar das ABC der Gesangsbegleitung nicht beherrschen. Natürlich betrifft das keineswegs die Bayerische Staatsoper – ich spreche hier von generellen Tendenzen in der Opernwelt, die mir Sorge bereiten.

Wann sind Ihnen „Cavalleria rusticana“ und „Pagliacci“ erstmals begegnet?

Leoncavallos „Pagliacci“ war die erste Oper, in der ich je mitsingen durfte: In einer von Riccardo Muti geleiteten Aufführung an der Mailänder Scala feierte ich 1993 als zehnjähriger Bub mein Bühnen-Debüt. Und „Cavalleria rusticana“ war die erste Oper, die ich je dirigiert habe – 2007 in Sankt Petersburg. Damals habe ich mich auf den ersten Blick in Mascagnis unglaublich temperamentvolle Musik verliebt. Im Nachhinein muss ich zugeben, dass ich in meinem jugendlichen Überschwang wohl deutlich übers Ziel hinausgeschossen bin: Aus jedem Forte wurde eine Klimax. Erst im Laufe der Jahre habe ich gelernt, die Leidenschaft klüger zu dosieren.

Welches Klangbild streben Sie heute an, wenn Sie diese beiden Opern dirigieren?

In vergangenen Jahrzehnten hat sich die Unsitte verbreitet, Verismo-Opern mit Schreien, Schluchzern, extrem lang gehaltenen Spitzentönen und anderen Effekten aufzumotzen, die gar nicht in der Partitur stehen. Dabei sind solche Übertreibungen völlig kontraproduktiv: Statt zu dem von den Komponisten angestrebten Naturalismus führen sie zu unnötiger Vulgarität. Im Kern geht es bei diesen Opern keineswegs darum, dass die Protagonisten sich die Haare ausreißen und ihre Wut oder Verzweiflung herausbrüllen. Der Schlüssel zur berührenden Schönheit dieser Musik liegt vielmehr in ihrer Schlichtheit. Bei „Cavalleria rusticana“ ist zudem ein religiöser Grundton essenziell.

Deren Handlung spielt ja auch nicht zufällig an einem Ostersonntag.

Genau. Besonders deutlich wird die Sabotage der kompositorischen Absicht übrigens, wenn man sich Live-Aufnahmen von „Vesti la giubba“ aus „Pagliacci“ anhört – manche Interpreten bauen da in jeden Takt eine Fermate ein, um mit ihren Fähigkeiten zu protzen: „Hör mal, mein hohes A! Und hier: mein hohes H!“ Der Rhythmus, die harmonische Spannung werden durch die Unterbrechungen komplett zerstört. Hingegen versuchen wir im Nationaltheater, die beiden Opern zwar mit maximaler Intensität zu präsentieren, aber stets im Rahmen dessen, was Mascagni und Leoncavallo notiert haben. Das Bayerische Staatsorchester scheint mir hierfür wie geschaffen.

Inwiefern?

Weil es Leidenschaft und Klangkultur vereint. Die Musikerinnen und Musiker agieren sehr reflektiert, denken über die Bedeutung jeder Passage nach und verleihen ihrem Spiel dadurch eine enorme Tiefe. Ich liebe dieses Orchester!

Regisseur Francesco Micheli hat die Arbeitsatmosphäre an der Staatsoper als „Mischung aus BMW und Oktoberfest“ beschrieben. Deckt sich das mit Ihren Eindrücken?

Absolut. Es wird ernsthaft, professionell und präzise gearbeitet, wie man es gemäß gängiger Klischees von Deutschen erwartet, aber immer mit einem Lächeln. Diesmal kann ich die Zeit besonders genießen, denn seit der Geburt meiner Tochter konzentriere ich mich auf wenige Projekte. So dirigiere ich im Mai und Juni nur sieben Aufführungen im Nationaltheater. Früher wäre ich zwischen den Vorstellungen tageweise nach London heimgekehrt, doch nun bleibe ich die ganze Zeit mit meiner Familie in München. Ich habe mich schon beim Goethe-Institut eingeschrieben, um meine Deutsch-Kenntnisse zu verbessern – nicht zuletzt deshalb, weil ich in der kommenden Spielzeit an der Staatsoper „Ariadne auf Naxos“ und „Der Freischütz“ übernehme. Darauf freue ich mich schon sehr!

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