Präzise im Beobachten von Menschen und Situationen: Die Schriftstellerin Donna Leon veröffentlicht heute ihr neues Buch „Backstage“, eine Sammlung von Texten und Essays. © imago stock
Der Titel des neuen DonnaLeon-Buchs – Obacht, kein „Brunetti“! – ist ein Fehlgriff. „Backstage“ müsste unbedingt „Hinter den Kulissen“ heißen: Wer so von Opern und ihren Inszenierungen schwärmt, steht naturgemäß hinter grandiosen Kulissen und weiß gerade dadurch, dass es da meist eng, staubig, bösartig zugeht. Aber eben auch prickelnd, solidarisch, lampenfiebrig und kreativ. Diese Vielschichtigkeit spiegelt sich in allen Anekdoten und Analysen des vorliegenden Bandes der Schweizerin gewordenen US-Amerikanerin Leon (Jahrgang 1942) wider. Viele davon wurden noch nie veröffentlicht, einige nicht auf Deutsch und manche in Publikationen von Musiktempeln wie der Semper-Oper in Dresden. „Backstage“ ergänzt gewissermaßen die Autobiografie „Ein Leben in Bildern“ (2022).
Die Commissario-Brunetti-Leserschaft wird „ihre“ Donna Leon in den kleinen Formaten wiederfinden. Wie in den Kriminalromanen ist sie in ihren Erinnerungsepisoden, Begeisterungs-Essays und Schreibwerkstatt-Schnupperkursen kompetent und humorvoll, präzise im Beobachten von Menschen und Situationen, sozialkritisch, ohne mit dem Zeigefinger herumzufuchteln, und so didaktisch, dass wir es gar nicht merken. Obwohl es bitter ist, auf den jährlichen Krimi verzichten zu müssen, die heute erschienene Textsammlung entschädigt dafür.
Die Schriftstellerin steigt biografisch ein – und knallhart: „Er war schwarz und lebte in Amerika, also hatte er von Anfang an kaum eine Chance. Man könnte auch sagen, kaum eine Chance, noch bevor er überhaupt geboren war.“ Cedric ist einer ihrer Schüler. Siebzigerjahre in den USA, die junge Donna macht ihren Master in Literaturwissenschaft und finanziert das, indem sie als Aushilfslehrerin arbeitet. Leon erzählt eine unspektakuläre Geschichte über den Rassenhass; und wie deren Opfer sich dagegenstemmen, von ihm infiziert zu werden. Den nächsten kulturellen Sprung dürfen wir mit ihr nach Isfahan machen. Sie unterrichtet im Schah-Iran einheimische Piloten, die ihre US-Ausbilder verstehen lernen müssen. In den verschiedenen Persien-Texten sprüht der Witz, bis die Revolution der Mullahs ausbricht. In der Fluchtschilderung zeigt Leon ihr Talent für den Thrill.
In zehn Kapitel-artige Abschnitte von „Früh im Leben“ über „Liebe“ bis „Enden“ ist das Konvolut eingeteilt. Venedig und Brunettis Fälle werden ebenso wenig vergessen wie Erläuterungen zu Techniken des Erzählens, Schreibens und Recherchierens. Der Besuch beim „Diamantenmann“ Filippo (für „Blutige Steine“) wird da ein melancholisches Kabinettstückchen. Und in „Venedig 1729“ kommen sogar der Carnevale, gesellschaftliche Verwirbelungen, haufenweise Opernuraufführungen und ein fleißig plagiierender Händel zusammen.
Außerdem erfahren wir, dass Donna Leon Charles Dickens verehrt, Ruth Rendell (Krimis) und Patrick O’Brian (Seefahrerromane), und zwar mit leidenschaftlicher, aber niemals blinder Hingabe. Im Übrigen steht auf dem Leseplan von Vergils „Aeneis“ bis Tolstois „Tod des Iwan Iljitsch“ möglichst: alles. Immer wieder stoßen Literatur und Oper in Donna Leons Überlegungen einander befruchtend an. Sie machen nicht nur Lese- und Opernfans Spaß, weil die Autorin ehrlich enthusiastisch ist: „Manchmal jedoch findet sich … ein richtiges Buch, eines, das einen an der Gurgel packt und daran erinnert, welche Wucht ein Text entfalten kann.“ Und: „Wir brauchen den Rhythmus und die Kraft der Musik, die unsere Gefühle aufwühlt. Vom Lesen allein bekommen wir kein Herzklopfen: Wir müssen sehen und hören, nur dann ergreift uns der Kunst bestes Wow.“
SIMONE DATTENBERGER
Donna Leon:
„Backstage“. Aus dem
amerikanischen Englisch von Werner Schmitz, Christa E.
Seibicke u. a. Diogenes Verlag, Zürich, 253 Seiten; 24 Euro.