Ergreifender Engel

von Redaktion

Das Bode-Museum zeigt Paul Klees selten ausgestellten „Angelus Novus“

Erstbesitzer der Zeichnung: Walter Benjamin. © bpk

„Er möchte wohl verweilen – die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“, schrieb Walter Benjamin über den „Angelus Novus“ von Paul Klee. Der Philosoph erwarb das Blatt 1921 in München. © Elie Posner

„Es gibt ein Bild von Klee, das ,Angelus Novus‘ heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen – sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt.“ So beschrieb einst Walter Benjamin, Philosoph und Kulturkritiker (1892-1940), in der neunten These seines Werks „Über den Begriff der Geschichte“ die aquarellierte Ölfarbzeichnung von Paul Klee. Entstanden ist sie 1920. 1921 hat Benjamin, 29-jährig, sie in der Münchner Galerie Hans Goltz entdeckt und für 1000 Papiermark erworben.

Gegenwärtig ist das nur sehr selten im Original zu sehende Bild im Berliner Bode-Museum ausgestellt. Anlässlich des 80. Jahrestages von Kriegsende und Befreiung vom Faschismus präsentiert das Museum diese kleine, aber feine Sonderschau „Der Engel der Geschichte“.

Das Klee-Aquarell hat einen weiten Weg hinter sich. Erste Station des Bildes war Benjamins Berliner Wohnung. Als er 1933 nach Frankreich emigrierte, brachten es ihm Freunde ein paar Jahre später in sein neues Pariser Domizil. Mit Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1940 begab sich Benjamin abermals auf die Flucht, wiederum ohne das Bild, über den Fußweg durchs Gebirge nach Spanien. Dort nahm er sich in dem Grenzort Portbou das Leben.

Um Klees in Paris verbliebenes Aquarell kümmerte sich der Freund und französische Schriftsteller George Bataille. Er versteckte das Bild wie auch weiteren Nachlass in der Bibliothèque nationale de France. Nach Kriegsende wurde alles an Theodor W. Adorno geschickt, der es, wie in Benjamins Testament von 1932 verfügt, später an Gershom Scholem, Jugendfreund Benjamins und Religionshistoriker mit Lehrstuhl an der Hebräischen Universität Jerusalem, weiterleitete. Seit dessen Tod 1982 ist das „Angelus Novus“ im Besitz des Israel Museums in Jerusalem.

Tief berührt und beeinflusst von diesem Klee-Aquarell entwickelte Benjamin sein Denkbild vom „Engel der Geschichte“, der von einem Sturm, der für den Fortschritt steht, rückwärtsschauend in die Zukunft getrieben wird. Und dabei auf die Ruinen der Vergangenheit blickt. Benjamin: „Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“

Obwohl vor mehr als 80 Jahren geschrieben, klingt das alles sehr aktuell. Die handschriftlichen Manuskriptseiten sind in der Ausstellung zu sehen, wenn auch nur sehr schwer zu entziffern. Und wer das zentral platzierte Bild genau betrachtet, muss feststellen, dass die Beschreibungen der Trümmer und Ruinen der Vergangenheit im wabernden Rauch oder sturmgepeitschten Wolken, die die Figur einrahmen, nur zu vermuten sind.

Vielleicht ist es auch so, dass dieser Engel all das Grauen in uns sieht, die wir die Betrachter des Bildes sind. Denn er schaut uns erschrocken und mit aufgerissenem Blick direkt in die Augen. Walter Benjamins Interpretation des Engels: „Er möchte wohl verweilen – die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.“

Die Besonderheit dieser sehr spezifischen Schau wird unterstrichen durch ihren Berlin-Bezug, durch Originale wie Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia I“, Gianbattista Bregnos kriegs- und brandverletzten „Kniender Engel“ von 1510, durch berühmt gewordene Fotos aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und durch Ausschnitte aus Wim Wenders’ Film „Der Himmel über Berlin“ von 1987.

Caravaggios erste Fassung des Gemäldes „Heiliger Matthäus und der Engel“ aus dem Jahr 1600, das unmittelbar nach Kriegsende in einem gesondert geschützten Flakturm-Bunker in Berlin-Friedrichshain durch ein Großfeuer vernichtet wurde, ist zwar nur als Foto vorhanden – doch selbst dieses ist von starker Anziehungskraft.

Die kleine Sonderschau erweist sich als so aktuell wie ergreifend. In ihrer Gegenwärtigkeit ist sie von höchster Besonderheit unter all den Kronjuwelen der Berliner Museumsinsel.
SABINE DULTZ

Bis 13. Juli

Bode-Museum,
Am Kupfergraben 3, Berlin;
Mi.-Fr. 10-17 Uhr,
Sa./So. 10-18 Uhr; ab 3. Juni auch dienstags geöffnet.

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