Ein Kontinent voller Klänge

von Redaktion

Joseph Bastian holt mit seinen Symphonikern Amy Beach zurück nach München

„Musik liegt immer in der Luft, wohin man auch geht“, berichtet die US-Komponistin und Pianistin Amy Beach (1867-1944) über München. © All mauritius images

Joseph Bastian, Dirigent der Symphoniker. © Andrej Grilc

München, Wittelsbacherplatz, Herbst 1911. Die Musikerin Amy Beach aus Amerika bezieht ein Zimmer in der Pension Pfanner, Finkenstraße 2. Mit im Gepäck: ein Stapel Partituren, eine Vergangenheit voller Einschränkungen und ein gewaltiger künstlerischer Wille. Beach ist 44 und in den USA längst eine gefeierte Komponistin und Pianistin. Jetzt, frisch verwitwet, kommt sie nach München – und ist zum ersten Mal in ihrem Leben frei. Drei Jahre wird sie bleiben, Konzerte in ganz Deutschland geben, Kontakte knüpfen, Musik schreiben. An der Isar beginnt Amy Beach ein neues Leben: als Virtuosin, als Komponistin, als unabhängige Frau.

Heute ist ihr Name fast vergessen. Doch der Dirigent Joseph Bastian, 43, will das ändern. Mit einer neuen Aufnahme bringt er die Musik von Amy Beach zurück – dorthin, wo sie einst aufblühte: nach München.

München, 2023: Bastian wird Chefdirigent der Münchner Symphoniker und beschließt: Mehr Werke von Komponistinnen sollen ins Programm – auch „als Wiedergutmachung“, wie er sagt. Weil keine Frau auf den Dirigentenposten berufen wurde, sondern er. Beim Stöbern stößt er auf ein Atlantis der Musik, erschaffen von Frauen. „Das war ein ganzer Kontinent“, sagt er. „Der musste erst noch entdeckt werden.“

Und Bastian zieht es durch. Sein erstes Programm: Clara Wieck Schumann, Dora Pejacevic, Camille Pépin. Nur Komponistinnen. Drei Frauen, drei Jahrhunderte. „Ich wollte nicht bloß am Anfang eines Konzerts fünf Minuten als Alibi spielen“, sagt er. Später wird Bastian auf Amy Beach (1867-1944) aufmerksam – und ist elektrisiert von ihrer spätromantischen Musik. „Sie hat eine ganz eigene Klangwelt erfunden, die tief aus ihrem Inneren kommt“, sagt er. Ausdrucksstark, bewegend – zugleich brillant komponiert, präzise in der Balance der Stimmen, melodisch komplex. Bastian ist klar: Das wollen wir aufnehmen.

Boston, um 1870. Amy Beach wächst in einer bürgerlichen Familie auf. Früh zeigt sich: Das Kind ist musikalisch hochbegabt. Mit einem Jahr kann Amy 40 Lieder präzise summen, mit zwei improvisiert sie Begleitmelodien zu Schlummerliedern ihrer Mutter. Wenn jemand die Töne nicht trifft, motzt die Kleine, sobald sie sprechen kann: „Sing es sauber!“ Sie hat das absolute Gehör, sieht Tonarten und Töne als Farben. Mit vier schreibt sie erste Walzer – aus dem Kopf. Denn ihre dominante Mutter, der Genialität ihrer Tochter durchaus gewahr, lässt die Kleine jahrelang nicht ans Familienpiano. Amy soll ein „normales“ Kind bleiben.

Mit sechs bekommt sie endlich Klavierunterricht, mit sieben trägt sie BeethovenSonaten vor – neben eigenen Werken. Bald tritt sie öffentlich auf, auch mit großen Orchestern, wird als Piano-Virtuosin gefeiert. Doch mit 18 heiratet sie einen prominenten Arzt, Henry H. A. Beach, er ist älter als ihr Vater. Und verbietet ihr, öffentliche Konzerte zu geben, außer für wohltätige Zwecke. Sie solle lieber komponieren, findet er. Obwohl Beach sich das selbst beibringen muss, angetrieben von ihrem Ehemann und der Mutter, entstehen bedeutende Werke. Und werden aufgeführt.

1896, mit 28, vollendet sie ihre „Gaelic Symphony“, die erste Symphonie einer amerikanischen Komponistin. Die Musikwelt applaudiert. Ein Kollege schreibt, sie sei jetzt „one of the boys“. Das ist als Kompliment gemeint – und doch bezeichnend für die patriarchalische Zeit. Diese Symphonie in E-Moll hat Bastian für sein Album ausgewählt, dazu drei dramatische Gesangswerke, die noch nie aufgenommen wurden. Die Münchner Symphoniker betreten Neuland.

Wie einst Amy Beach. 1910 und 1911 sterben ihr Mann und ihre Mutter. Trotz tiefer Trauer ist das auch eine Befreiung. Sie reist nach München, zieht in die Pension Pfanner, zur Sopranistin Marcella Craft. Die ist an der Hofoper eine Berühmtheit, singt (und tanzt) unter Richard Strauss die „Salome“. Sie hilft Beach, sich in Deutschland – endlich – wieder als Pianistin zu zeigen. Und ihre Kompositionen bekannt zu machen.

München hat es Beach angetan: „Musik liegt immer in der Luft, wohin man auch geht.“ Beach berichtet von „populären“ Konzerten, die ein Militärorchester zweimal wöchentlich im Hofgarten bei der Residenz gibt, unweit ihrer Pension. Hunderte Menschen lauschen im Schatten der Kastanienbäume. An einem Sommernachmittag hört Beach dort die Ouvertüre von Mozarts „Zauberflöte“, dann ein längeres Stück aus Wagners „Parsifal“. Einfach so. Beach reist viel, wandert in Garmisch-Partenkirchen. Die Alpen, die sie aus ihrem Hotelzimmer sieht, inspirieren zu neuer Musik, etwa „Prelude und Fuge“, Opus 81.

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrt sie zurück in die USA, lebt später in einer Künstlerkolonie. Um 1940 bekommt Beach Herzprobleme. Ihr Arzt verbietet ihr, bittere Ironie, Klavier zu spielen. Wie einst ihre Mutter. Amy Beach stirbt 1944.
ROBERT ARSENSCHEK

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