Der Boss erfüllt seine Berlin-Mission

von Redaktion

Bruce Springsteen weckt bei erster Deutschland-Show Erinnerungen an 1988

Sie hauten für die Freiheit auf die Pauke: Bruce Springsteen im Kreise der E-Street-Band-Mitglieder (v. li.) Saxofonist Jake Clemons, Drummer Max Weinberg und Percussionist Anthony Almonte. © Annette Riedl / dpa

„Wir geben nicht klein bei!“ Bruce Springsteen sang einmal mehr gegen Donald Trumps Politik an. © Annette Riedl/dpa

Bruce Springsteen redet nicht lang um den heißen Brei herum. Klar: Guten Abend, Berlin, schön wieder hier zu sein. Aber dann ruft er noch vor dem ersten Ton, die Abendsonne der deutschen Hauptstadt im Rücken: „Die mächtige E-Street Band ist heute hierhergekommen, um in gefährlichen Zeiten die gerechte Macht der Kunst, der Musik und des Rock ’n’ Roll anzurufen.“

Darunter macht der Boss es nicht. Denn Springsteen ist auf einer Mission, seit er auf Tournee die Welt bereist: Botschafter zu sein für sein Land und dessen Werte, die er als Geisel Donald Trumps sieht, mit dem er sich medienwirksame Scharmützel liefert (wir berichteten). „Das Amerika, das ich liebe, das Amerika, über das ich zu Euch gesungen habe, das 250 Jahre ein Leuchtfeuer der Freiheit gewesen ist, ist derzeit in den Händen einer korrupten, inkompetenten und verlogenen Regierung“, spricht er ins ausverkaufte Olympiastadion. „Heute Nacht bitten wir die, die an die Demokratie und an das Beste in unserem amerikanischen Experiment glauben, ihre Stimme zu erheben und mit uns gegen den Autoritarismus aufzustehen – und die Freiheit erklingen zu lassen.“

Das kann man pathetisch finden. Und natürlich ist hier nichts spontan, alle Ansagen sind heute sorgfältig einstudiert, Springsteen liest sie ab. Außerdem sind die Botschaften und Songs wie „My City of Ruins“ auf der Videoleinwand mit deutschen Untertiteln versehen – damit es nur wirklich jeder kapiert. Aber eine Show vor 75 000 Menschen ist nun mal kein literarisches Quartett, da muss man schon auf die Pauke hauen – so wie Saxofonist Jake Clemons beim Eröffnungssong „My Love will not let you down“. Motto: „Wir sind die E-Street Band, und wir sind bewaffnet!“

Aber Springsteen, der heute ganz seriös mit Leinenhemd, Weste und weinroter Krawatte antritt, meint es wirklich ernst, das spürt man. Grimmig ruft er die Verse ins Mikro, trifft nicht immer jeden Ton, das Lieber-Onkel-Gesicht zornig verzerrt. Er ist glaubhaft empört, dass so viele der Menschen, deren Leben und Leiden, Heldentaten und Hamsterrad er besingt, sich an diesen Rattenfänger verschwenden. Auch den Umgang mit den Demonstranten in Los Angeles thematisiert er. „Sie setzen das amerikanische Militär auf Amerikas Straßen ein, basierend auf Unwahrheiten über eine ausländische Invasion. All das passiert jetzt!“

Trump wiederum, das merkt man seinen Reaktionen an, nimmt Springsteen als Bedrohung ernst. Denn der Boss kriegt die Leute an einer ähnlichen Stelle wie der Demagoge. Niederschwellig, wie man heute sagt. Doch appelliert er nicht an die niederen Instinkte, er feiert die gute Zeit, die wir – dem alltäglichen Mist zum Trotz – immer noch haben. Er stiftet Gemeinschaft. „Wir haben mehr von einer Drei-Minuten-Platte gelernt als jemals in der Schule“, singt er in „No Surrender“. Genau, so isses! Prost! Und Steven Van Zandt haut wütend in seine gelb-blaue Gitarre, die er seit Beginn des Ukraine-Kriegs aus Solidarität spielt. „Wir geben nicht klein bei!“

Das passt natürlich zum Thema, so wie viele Zeilen in Springsteens Songs sich mühelos umcodieren lassen zum zivilen Ungehorsam: „Man kann kein Feuer ohne einen Funken entfachen“ („Dancer in the Dark“), „Sie können dir nicht wehtun“ („Because the Night“), „Schwere Zeiten kommen und schwere Zeiten gehen“ („Wrecking Ball“). Darüber hinaus zitiert die Band gleich mehrmals die große Menschenrechts-Hymne „People get ready“ von Curtis Mayfield, zelebriert den Gospel, wenn sie nicht ohrenbetäubend lärmt wie in „Murder incorporated“.

Es sind diese Zwischentöne, die wirklich wirken – und die auch vor fast 40 Jahren jeder in Berlin verstand, der Ohren hatte. 1988 spielte Springsteen in Weißensee im Osten der Stadt vor geschätzt 300 000 Fans. Genau gezählt hat sie keiner, denn das DDR-Regime war alarmiert: Dieser hemdsärmelige Ami infizierte die Arbeiter und Bauern mit dem Freiheitskeim! Dass er als Amerikaner auf der richtigen Seite der Geschichte steht, war und ist Springsteen wichtig – und er kann sich darauf verlassen, dass viele, die ihn heute hier im Westen Berlins feiern, ihre Gefühle von damals ihr Lebtag nicht vergessen werden.

So wird in dieser Stadt sogar der Jubel politisch: die wogenden Hände bei „Bobby Jean“, die 150 000 emporgerissenen Arme nach der dramatischen Pause in „Born to run“, der Massen-Chor zu „Badlands“. Springsteen kommt aus den Herzen der Fans gar nicht mehr heraus. „30 Shows – Zeit für eine Umarmung“, hat eine weitgereiste Frau auf ihr Schild geschrieben. Der Boss drückt sie so lange und so fest, dass ihr fast die Luft wegbleibt.

Nach drei Stunden, als das Hemd durchgeschwitzt und die Weste längst vom Rocker-Leib gerissen sind, stimmt Springsteen Bob Dylans Hymne „Chimes of Freedom“ an. Die blitzenden Glocken der Freiheit, die er schon 1988 besang. Die Botschaft ist angekommen.

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