Hoffnung für Herz und Hirn

von Redaktion

Das Leipziger Bachfest zwischen dunkler Realität und musikalischer Klasse

John Eliot Gardiner feiert ein triumphales Comeback.

Das Galilee Chamber Orchestra aus Nazareth sitzt nach dem Angriff Israels auf den Iran in Deutschland fest. © Gert Mothes

Bach für alle und gratis gibt es auf dem Leipziger Marktplatz. © Sebastian Willnow

Jauchzen ausgerechnet jetzt? Frohlocken etwa? Das Stück passt gerade gar nicht. Weniger, weil draußen 30 Grad herrschen und drinnen, in der Peterskirche, Bachs Weihnachtsoratorium erschallt. Den Orchestermitgliedern ist kaum nach feiern zumute, sie sitzen fest. Wenige Stunden nach dem israelischen Angriff auf den Iran gibt es für das Galilee Chamber Orchestra aus Nazareth vorerst keinen Weg zurück. Ein Weg der Versöhnung ist dieses Projekt aus arabischen und jüdischen Israelis, beim Leipziger Bachfest musizieren sie mit dem GewandhausChor die ersten drei Kantaten des Adventsschlagers.

Die Kriege sind mit Händen zu greifen

Man hört ihnen die Beklommenheit nicht an. Das Weihnachtsoratorium tönt bei ihnen klangschön, aber verhalten bis brav – doch das liegt an Dirigent Florian Lohmann. Die Solisten reißen’s raus, allen voran Weltklasse-Evangelist Daniel Johannsen. Es ist nicht der einzige Fall, dass sich bei diesem Bachfest Realität und Werke überlappen und durchdringen. Brennend bis bestürzend aktuell ist dieses Festival anno 2025, zu dem wieder die Fans teils bis aus Übersee eingeflogen sind.

In der Nikolaikirche zum Beispiel hört man an einem Abend nur von Trübsal und Tränen, 100 Minuten im Jammertal. Das 17. Jahrhundert mit seinen Kriegen und Krankheiten ist mit Händen zu greifen. Die drei Kantaten erzählen von Qual im Diesseits, allerdings auch von Freude und Hoffnung – Gottvertrauen vorausgesetzt. Wer mag, kann das auf die Situation von Sir John Eliot Gardiner beziehen. Der Brite feiert in Leipzig sein Comeback, es wird ein Triumph. Ohrfeige gegen einen Choristen, Zwangspause, Therapie, seine Geschichte ist bekannt. Das Tischtuch zu seinen früheren Ensembles ist zerrissen, nun steht Gardiner am Pult von The Constellation Choir and Orchestra, seinen Neugründungen. Der Chorklang ist frischer, jünger, das Niveau wie immer bei Gardiner uneinholbar.

24 Stunden später in der Thomaskirche legt Gardiner eine Schippe drauf. „Ich habe Lust, von dieser Welt zu scheiden“ heißt es einmal, vier Todesmeditationen in Kantatenform. Man kann sich nicht satthören an Bachs verrückten Bläser-Farben und daran, wie alles gespielt und gesungen wird. Es ist eine Interpretation von einem anderen Barockplaneten. „Welt, bei dir ist Krieg und Streit“, singt der Chor, da ist die Realität schon wieder präsent.

Zum Bachfest pilgern alle Altersgruppen. Führungen, ein computeranimierter Komponist, Ausstellungen, eine Radltour zu Kirchen außerhalb der Stadt, auf dem Marktplatz gibt es Gratis-Konzerte. In einem muss der Münchner Motettenchor mit verjazzten Bach-Motetten gegen den Regen ansingen. Manchmal ist zwischen den Konzerten nur eine halbe Stunde Zeit. Ein schnelles Getränk, eine Brezel, schon geht es zum nächsten Termin. Es gibt viele, die sich fast alles antun. Eine Bach-Flatrate, Wellness für Ohren, Herz und Geist. An lauen Abenden laden Bistros, Bars und Restaurants zur Freiluft-Kulinarik ein, die Stühle und Bänke in der Fußgängerzone sind bis weit nach Mitternacht besetzt.

Das ist auch notwendig, weil das Festival Nachtkonzerte veranstaltet. Im barocken Salles de Pologne spielt das Münchner Klavierduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen Bearbeitungen von Bach-Werken, aber auch Reinhard Febels fintenreiche Verfremdungen der „Kunst der Fuge“. Tal/Groethuysen rollen das an zwei Flügeln farbsatt, fast orchestral auf. Das Gegenteil 24 Stunden später. Klaus Mertens singt Bachs geistliche Lieder aus dem Schemelli-Buch, Ton Koopman begleitet an Orgel und Cembalo. Stilbewusster, uneitler und doch so reflektiert kann man diese Lieder nicht singen.

Seit Jahrzehnten kommt Mertens nach Leipzig. Neu in der Familie ist der Spanier Leonardo García-Alarcón. Mit dem Choer de Chambre de Namur und der Cappella Mediterranea lässt er den Eingangschor von „Schauet doch und sehet“ auch auf den Seitenemporen der Thomaskirche und damit in Dolby Surround erklingen. Alles ist bei García-Alarcón durchglüht und vollblütig entwickelt. Auch die Spanier haben ihren Kommentar zur Realität parat: Als vom aufziehenden Wetter samt Racheblitz gesungen wird, zieht eine Unwetterfront über die Stadt.

Der Protestantischste von allen ist ausgerechnet ein Italiener. Dirigent Andrea Marcon feiert in der Nikolaikirche 300. Geburtstag, und zwar den der Zweitfassung von Bachs Johannespassion. Die wird fast nie gespielt und ist noch dramatischer, Chor und Orchester von La Cetra aus Basel agieren mit strenger Dramatik, schmucklos, geradlinig. In den Kirchenschiffen und Sälen ist immer wieder Michael Maul zu sehen. Der Intendant muss Doppelgänger beschäftigen. Seine Kontakte und sein prallvolles Telefonbuch bescheren Leipzig das weltweit vielschichtigste Komponistenfestival. In den Pausen schielen die Fans aufs Handy, die ersten Abos fürs nächste Jahr können bald gebucht werden. Kantaten mit Koopman, Herreweghe oder Gardiner, Klaviersolistisches mit András Schiff – der Juni 2026 ist schon mal blockiert im Kalender.MARKUS THIEL

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