„Soll ich zum hundertsten Mal sagen, dass das Leben als Jude in Deutschland Mist ist?“ Igor Levit gastiert diese Woche in München. © Peter Rigaud
Länger, monumentaler geht es kaum. Ferruccio Busonis Klavierkonzert dauert knapp 80 Minuten. Igor Levit widmet sich diesem Koloss am 19., 20. und 21. Juni in der Isarphilharmonie. Antonio Pappano dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.
Ist das Busoni-Klavierkonzert die „Götterdämmerung“ für Pianisten?
Nein. Es ist ein sehr schwer zu spielendes Stück, das aber wahnsinnig Spaß macht. Zwei, drei Momente gibt es, da stelle ich infrage, ob sie rein physisch funktionieren. Aber nichts von dem, was Busoni schreibt, ist unspielbar – auch wenn er an Grenzen geht. Es ist einfach ein Konzert, das von einem der zwei, drei größten Pianisten der Menschheitsgeschichte geschrieben wurde und gespielt werden will.
Es sei „eines der unterschätztesten Meisterwerke“, haben Sie einmal gesagt. Warum rutscht es dann so oft durchs Raster?
Die Antwort ist vielleicht langweilig, aber ich meine sie durchaus ernst. Eine Aufführung ist sehr teuer und schwierig, für private Veranstalter nahezu unmöglich: der Chor, das sehr große Orchester, ein Solist, dazu die Schwierigkeit, es mit anderen Stücken zu kombinieren. 2020 gingen mir wegen der Pandemie einige Gelegenheiten verloren, es zu spielen. Umso mehr freue ich mich jetzt über dieses großes Geschenk.
Was sagt dieses Stück aus über Busoni? War er ein maßloser Mensch?
Das Werk ist auf eine Art relativ konventionell – abgesehen von der Dimension. Busoni geht nicht so weit wie in der Oper „Doktor Faust“. Es ist das Stück eines Deutsch-Italieners oder umgekehrt, mit einer deutschen und einer extremen neapolitanischen Seele. Und es ist ein neugieriges, weltumspannendes Werk, geschrieben von einem der progressivsten Gemüter seiner Zeit.
Am Chorfinale wird gern herumgemäkelt. Dieses sei verstörend, ein Fremdkörper, heißt es dann.
Der letzte Satz seiner neunten Symphonie ist auch nicht das Beste, was Beethoven geschrieben hat. Busonis Finale ist eine Conclusio des Stückes. Der Choral steht über allem in diesem Klavierkonzert, und jetzt bekommt er einen Text. Natürlich hat das Stück einen gewissen Kitsch. Ehrlich gesagt mag ich das Finale sehr gerne leiden. Und wer’s nicht mag, dem sage ich: Lehn‘ dich zurück, es sind nur zehn Minuten von 75, die schaffst du auch noch.
Schaffen Sie es gerade, den Alltag an der Garderobe abzugeben, wenn Sie auf die Bühne gehen?
Ich gebe ihn nicht an der Garderobe ab. Ich bin aber an einem Punkt, an dem ich sage: Diese Zeit hat sehr viel Klarheit für mich gebracht. Mit welchen Menschen man zu tun haben will. Wer im berühmten Boot mit mir sitzt, wer nicht. Ich habe nicht vor, mich jeden Tag damit aufzuhalten, wie schlecht es mir geht. Ich muss mit der Zeit arbeiten, in der ich lebe, und mit dem Material, das ich habe. In dieser Zeit möchte ich gern gute Dinge vollbringen und an einer musikalischen Zukunft mitbauen, an die ich glaube. Das hat zu tun mit Künstlern, mit denen ich arbeite. Mit Festivals, die ich betreue. Oder mit Aufnahmen, die ich machen möchte. Soll ich zum hundertsten Mal sagen, dass das Leben als Jude in Deutschland Mist ist? Es gibt Orte, an denen es noch schlechter ist. Ich kann mich nicht ständig damit aufhalten, das hat auch etwas mit Selbstschutz zu tun.
Definiert sich gerade die Rolle des Künstlers neu? Kann man noch guten Gewissens einfach eine Klaviersonate lernen, damit aufs Podium gehen, den Applaus abholen, und damit hat sich die Sache?
Ja. Umso mehr. Ich glaube, Leonard Bernstein hat gesagt: Je schlimmer die Zeiten sind, mit desto mehr Herz müssen wir Musik machen. Was denn sonst? In Stille einkehren oder mit einem Fels am Fuß in die Spree springen? Wir müssen gerade jetzt umso mehr Menschen zusammenbringen und Schönheit entstehen lassen. Ich kann gerade nicht genug Sonaten lernen, habe aber nicht genug Zeit dafür. Das war mal anders in den vergangenen eineinhalb Jahren. Ich bin dankbarer dafür, Musiker zu sein als je zuvor. Das gibt mir ein Gefühl von Sinnhaftigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit.
Sie werden als moralische Instanz wahrgenommen. Überfordert das?
Ich fände es problematischer, als Idiot wahrgenommen zu werden. Ich achte auf meinen aufrechten Gang. Nach dem 7. Oktober 2023 sind einige aus meinem Umfeld gegangen, viele sind geblieben, einige sind gegangen worden. Ich habe grundlegende Werte, die ich lebe und die ich frei von politischer Ideologie vertrete. Was soll man auch anders tun? Sie und ich werden nicht den Nahostkonflikt beenden. Ich habe in der Nacht des israelischen Angriffs auf den Iran keine Minute geschlafen. Natürlich macht das was mit mir – wie auch mit vielen Millionen. Ganz allgemein: Meine Werte haben sich nicht verändert, aber mein Gefühl von Zugehörigkeit und Vertrauen manchen Menschen gegenüber.
Am 12. Juli gibt es eine Hommage an Margot Friedländer im Berliner Ensemble. Die haben Sie mitorganisiert. Sie möchten, pathetisch gesagt, die Fackel weitertragen?
Niemand kann die Fackel von Margot Friedländer weitertragen. Michel Friedman, Intendant Oliver Reese und ich haben kurz nach ihrem Tod vereinbart: Wir wollen ihrer mit einem stillen, würdigen Abend gedenken. Dieser tollen, lebenslustigen, lebenshungrigen, wunderbaren Frau, die das dunkelste Kapitel des 20. Jahrhunderts überlebt hat.
Inwieweit hat sich eigentlich Ihr Klavierspiel gerade in den vergangenen Jahren verändert, auch unter äußeren Einflüssen?
Es hat sich genauso entwickelt wie ich selbst. Ich wollte immer schnörkelloser werden, schneller, klarer, entspannter, gelassener. Das Spiel und die Bühne werden immer mehr zu einem körperlichen und mentalen Erholungsort. Mein Selbstbewusstsein ist gestiegen bei gleichzeitigem höchsten Respekt vor dem Werk.
Christian Thielemann sagt immer, Bernard Haitink sei in seiner selbstverständlichen, natürlichen, klaren Art ein Idol gewesen.
Genau. Und Christian ist jemand, der das selbst gerade vorlebt. Wenn ich an seine Interpretation des BrahmsRequiems zurückdenke, besonders aber an seinen Wiener „Palestrina“, den ich gleich zweimal besucht habe. Da ist kein Gramm zu viel. Diese höchste Konzentration bei allerhöchster Gelassenheit finde ich atemberaubend.