Bruce Springsteen ist in sein Archiv gestiegen und hat bislang unveröffentlichte Alben ans Licht geholt. © Danny Clinch
Nach eigenem Bekunden weiß Bruce Springsteen selber nicht genau, wie viele Lieder er geschrieben hat. Schon als er 1998 erstmals eine Sammlung von bis dahin unveröffentlichten Songs auf den Markt brachte, gab er zu, beim Stöbern auf Titel gestoßen zu sein, an die er sich nicht erinnern konnte. Fans fassten sich seinerzeit an den Kopf, weil sie nicht fassen konnten, was für Juwelen Springsteen da dem Publikum vorenthalten hatte.
Nun kommt wieder eine geballte Ladung bislang unbekannter Werke heraus. „Tracks II“ umfasst sieben Alben, die Springsteen aufgenommen, aber nicht veröffentlicht hat. Weshalb? Das ist unklar, vieles deutet darauf hin, dass der sture Quertreiber mit selbstzerstörerischen Anwandlungen manisch schreibt, und sein getreuer Manager Jon Landau beherzt verhindert, dass sein Schützling alles, was ihm in den Sinn kommt, einfach veröffentlicht.
Denn anders als das sorgsam gepflegte Image des ehrlichen Rock-Puristen vermuten lässt, experimentiert Springsteen unermüdlich und häutet sich musikalisch regelmäßig. Das spiegeln jetzt die nicht erschienenen Alben: Edel-Country, rumpelnder Garagenrock, Big-Band-Sound, Mariachi-Klänge – in all diese Genres hechtet er mit mal mehr, mal weniger Erfolg. Die Herausforderung des Managements ist es, diese zügellose Kreativität in Einklang mit den Gesetzen des Marktes und den Erwartungen der Fans zu bringen. Mitte der Neunziger arbeitete Springsteen an elektronisch dominierten Stücken, motiviert vom Erfolg von „Streets of Philadelphia“. Springsteen hatte eine sehr raue Version aufgenommen, um Regisseur Jonathan Demme eine Vorstellung davon zu geben, was er sich für dessen Film „Philadelphia“ vorstellte. Demme wollte das Lied dann genau so, wie es war. Mit Drumbeats vom Computer, spärlichen Synthesizerklängen und dem unpolierten Gesang. Das Album, das erscheinen sollte, ist voller minimalistischer Skizzen mit den möglicherweise persönlichsten Texten, die Springsteen je verfasst hat. Letztlich gab es stattdessen eine außerordentlich erfolgreiche „Greatest Hits“-Platte und die Wiedervereinigung mit seiner E-Street-Band, die der Boss Ende der Achtziger von ihren Pflichten entbunden hatte. Ein smarter Schachzug für die Karriere, aber der interessantere Weg wäre es gewesen, seine Elektropop-Experimente zu veröffentlichen.
Andere Dinge auf „Tracks II“ überraschen weniger. Auf dem qualvollen, vierjährigen Prozess, der schließlich im Meilenstein „Born in the USA“ münden sollte, suchte Springsteen etwas ratlos nach einem neuen Weg. Das akustische Nebenprodukt „Nebraska“ (1982) wurde sein Meisterstück. Er spielte damals parallel Nummern ein, die sehr in Ordnung waren, aber bei Weitem nicht so monumental zwingend wie „Born in the USA“ werden sollte. Eine Entdeckung aus dieser Zeit ist „The Klansman“, eine verstörende Nummer, in der Springsteen zu einer verführerisch eingängigen Melodie aus der Sicht eines Kindes davon erzählt, wie ein Vertreter des Ku-Klux-Klans vom Krieg der Rassen und der bevorstehenden „Reinigung“ des Landes schwärmt. Über Jahrzehnte hat Springsteen aus Furcht über eine bewusste Fehlinterpretation das Lied zurückgehalten, in der aktuellen Lage scheint er keine Angst mehr zu haben, missverstanden zu werden: Die USA haben ein großes Rassismusproblem.
Bei anderen geplanten Alben kann man verstehen, weshalb sie zurückgehalten wurden. Auf der LP „Inyo“ versucht sich der Boss in Latino-Klängen und so ehrenwert das ist – hier ist er verloren. Ebenso in den Liedern von „Twilight Hours“, in denen er den großen US-Croonern wie Frank Sinatra nachzueifern scheint. Wobei: Es ist beeindruckend, wie hartnäckig Springsteen, der sich seiner stimmlichen Grenzen bewusst ist, an seinem Gesang arbeitet.
Ein Kessel Buntes also vom Boss. Für eisenharte Fans bieten „The lost Albums“ faszinierende Einblicke in die Arbeitsweise des Mannes, der seine Plattenfirma, seinen Manager, seine Band und nicht zuletzt seine Fans ein ums andere Mal ratlos zurücklässt. ZORAN GOJIC
Bruce Springsteen:
„Tracks II: The lost Albums“
(Columbia).