Mit 66 Jahren noch voll im Saft: Morrissey, hier in Berlin vergangenen Freitag. © Christian Behring/picture alliance / PIC ONE
Auf einmal steht er da auf der Bühne im Zenith. Das Hemd offen bis zum Bauchnabel, langstielige Blumen schwingend, unverkennbar Morrissey. Selbstverständlich ist das nicht, in der Vorwoche hatte der 66-Jährige kurzfristig zwei Skandinavien-Termine abgesagt – wegen Erschöpfung und mangelnder Unterstützung durch Radiosender und Plattenindustrie. In München ist von Erschöpfung nicht viel zu sehen, im Gegenteil. Der frühere Sänger der Band The Smiths ist gut aufgelegt und begeistert das Publikum im gut gefüllten, aber nicht ganz ausverkauften Zenith.
Großer Bühnenkünstler, genialer Songschreiber – und einer der umstrittensten Popmusiker unserer Zeit. All diese Attribute treffen auf Morrissey zu. Ein Zyniker war er schon immer, ein nihilistischer Provokateur auch, mit seinen Aussagen insbesondere zum Thema Migration hat der Sänger in jüngster Zeit aber einen großen Anteil seiner Fans irritiert.
Wem es gelingt, Autor und Werk zu trennen, der erlebt einen fulminanten Konzertabend im Zenith. Morrissey ist in seinem Element und zieht das Publikum mit einigen The-Smiths-Songs – zum Auftakt „Shoplifters of the world unite“, später dann „How soon is now“, „I know it’s over“ und als Zugabe „Last night I dreamt somebody loved me“ –, und mit den Solostücken in seinen Bann. Begleitet wird er dabei von einer herausragenden Band, die mit ihrem sehr druckvollen Spiel für eine beeindruckende Soundkulisse sorgt. Auch visuell ist viel geboten: Fotos und Videoschnipsel, alte Fotos von Morrissey sowie von Idolen wie Oscar Wilde, David Bowie oder Hannah Gluckstein, auf Großbildleinwand, jede Menge Stroboskop, und beim Song „Jack The Ripper“ verschwinden Morrissey und seine Bandkollegen diabolisch im dichten, rot angeleuchteten Nebel.
Die Ansagen zwischen den Liedern sind, wie die Texte der Songs, schnoddrig, zynisch, provokant und theatralisch. Und einmal liefert Morrissey eine Art Anleitung für mehr Gelassenheit im Umgang mit seinen Aussagen. „Worüber habe ich gerade gesprochen?“, fragt er nach einem kurzen und ziellosen Monolog. „Ach ja, über nichts.“MARC KNIEPKAMP