Herkunft und Himmel

von Redaktion

Pierre Jarawans neues Buch erzählt armenische Geschichte

Das armenische Viertel in Kayseri sei in Flammen gestanden, schreibt ein Mann 1915 seiner Frau, die gesamte Bibliothek verbrannt. Er warnt in seinem Brief vor Angriffen auf weitere Dörfer, bittet sie, mit den Kindern zu fliehen und wenn möglich, auch die Chronik ihres Heimatortes Sepastia mitzunehmen. Denn wenn dort das gleiche Schicksal drohe: „Wer erzählt dann von uns?“

Über 100 Jahre später sitzt Lilit el Shami im libanesischen Beirut und liest die verzweifelten Zeilen. Die Städte Kayseri und Sepastia existieren zwar noch, doch die Osmanen löschten die armenische Bevölkerung damals nahezu vollständig aus. Die Chronik hingegen hat überlebt. Das Papier ist brüchig, den Stammbaum ihrer Oma Anoush kann Lilit mit einiger Hilfe dennoch entziffern. Für die junge Frau sind die ihr bisher unbekannten Namen von Verwandten eine Offenbarung. Sie ist extra aus Kanada angereist, um mehr über ihre Vorfahren zu erfahren.

Die Chronik ist nur ein Baustein von vielen in Pierre Jarawans Werk „Frau im Mond“. Zwischen den Buchdeckeln verbergen sich nicht weniger als „ein Jahrhundert, drei Generationen, zwei Städte auf zwei Kontinenten, ein Raketenprojekt und eine Revolution“. Jarawan erzählt die Geschichte der el Shamis, vor allem von Großvater Maroun und dessen Traum, eine Rakete zum Mond zu schießen, seiner Frau Anoush, die nur knapp den Genozid an den Armeniern 1915 überlebt, sowie Enkelin Lilit, die versucht, die losen Erinnerungsfetzen zu verknüpfen.

Es ist Jarawans dritter Roman. Auch „Am Ende bleiben die Zedern“ (2016) und „Ein Lied für die Vermissten“ (2020) befassen sich mit dem Versuch, verdrängte oder verloren geglaubte Erinnerungen wieder ans Licht zu holen. Die Spurensuche führt dabei stets in den Libanon, Heimat von Jarawans Vater. Er selbst wurde in Jordanien geboren, kam aber als Bub nach Deutschland. Heute lebt der 40-Jährige in München.

Er begann als Poetry-Slammer – Lesungen von ihm fühlen sich noch heute an wie Märchenstunden. Auch in „Frau im Mond“ verwebt der begnadete Erzähler kunstvoll wahre Begebenheiten mit dem fiktiven Lebensweg der el Shamis, macht Nebenschauplätze auf, ohne den roten Faden zu verlieren. Seine malerische Sprache verfällt dabei nie ins Kitschige, zuweilen nimmt er den Roman sogar selbst auf die Schippe, etwa als Lilit bei ihrer Spurensuche in eine vermeintliche Sackgasse gerät: Das sei „zum Haareraufen dämlich, weil ja ein kurzer Blick ausreicht, um festzustellen, dass da noch mehr als zweihundert Seiten folgen“.

Die Kapitel sind mit Zahlen betitelt, die wie ein Countdown runterzählen und so einen Bogen zu den Weltraumambitionen des Opas spannen. Angelehnt ist das an die einstige Lebanese Rocket Society. 1966 gelang es der kleinen Studiengruppe in Beirut, eine Rakete mit einer Reichweite von mehr als 200 Kilometern zu entwickeln – drei Jahre vor der ersten Mondlandung der USA.

Die libanesischen Raumfahrt-Erfolge sind heute in Vergessenheit geraten. Ähnlich verhält es sich mit dem Schicksal der Armenier und ihrer Kultur. In „Frau im Mond“ erzählt Pierre Jarawan von dem, was verloren ging. SOPHIA COPER

Pierre Jarawan:

„Frau im Mond“. Piper,
496 Seiten; 26 Euro.

Artikel 10 von 11