Nach 57 Jahren noch brandaktuell

von Redaktion

Henzes „Floß der Medusa“ zum Auftakt

Huldigung an Henze: Dirigent Ingo Metzmacher (re.) hält die Riesenpartitur des Oratoriums, das in der Felsenreitschule aufgeführt wurde. © Marco Borrelli

Nein, das war keine leichte Kost, die Intendant Markus Hinterhäuser dem Salzburger Festspielpublikum zum Auftakt servierte. Schließlich ist Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ wegen seiner im Tumult abgebrochenen Uraufführung berüchtigt, bei der 1968 in Hamburg eine rote sozialistische Flagge auf der Bühne ebenso auf Ablehnung stieß wie die Widmung an Che Guevara.

Derartige Krawalle waren in der Felsenreitschule nicht zu erwarten. Selbstverständlich weiß der Großteil des Publikums inzwischen, worauf man sich bei den Konzerten der „Ouverture spirituelle“ einlässt. Und trotzdem wirkt es gleichermaßen erschreckend und ernüchternd, wie aktuell sich das Werk nach 57 Jahren noch anfühlt. Es ist die durch den französischen Maler Théodore Géricault verewigte Geschichte der Fregatte „Medusa“, die 1816 vor der Küste Mauretaniens auf ein Riff aufläuft. Die Rettungsboote reichen lediglich für die Führungselite, während den restlichen 149 Passagieren nur ein notdürftig zusammengezimmertes Floß bleibt, das von den Offizieren bald seinem Schicksal überlassen wird.

Die Ereignisse, die sich in den folgenden zehn Tagen abspielen, wurden von Henze nicht nur in erschütternden Klangbildern eingefangen, sondern zusätzlich mit kurzen Szenenanweisungen versehen, die das Podium in das Reich der Toten und das Reich der (noch) Lebenden unterteilen. Je mehr sich die Situation zuspitzt und das unbarmherzige Meer seinen Tribut verlangt, umso mehr Chormitglieder wandern nach links in die Unterwelt. Erschöpfung und der Kampf mit den Naturgewalten dezimieren die Besatzung immer weiter, ehe die letzten 15 Überlebenden schließlich zu Kannibalen werden.

Zum Chronisten dieses Horrorszenarios machen Henze und sein Textdichter Ernst Schnabel den mythischen Fährmann Charon. Hier verkörpert von Schauspieler Udo Samel, der die Episoden zunächst in nüchternem, immer emotionaler werdendem Tonfall kommentiert. Rhythmisch akzentuiert und stets mit den scharf schneidenden Einwürfen des ORF Radio-Symphonieorchesters verwoben.

Aufs prägnante Deklamieren versteht sich ebenfalls Bariton Georg Nigl. Wobei sich bei ihm allmählich ein Hang zum Manierierten zeigt. Mit säuselnd gehauchten Phrasen und pfeifendem Falsett, während er am anderen Ende des Spektrums nicht vor verzweifelten Schreien zurückschreckt, bei denen die Stimme zuweilen zu brechen droht. Was der Figur des Schiffbrüchigen Jean-Charles allerdings eine zusätzliche Verletzlichkeit verleiht.

Den Gegenpol zu ihm bildet Kathrin Zukowski als La Mort, die ihre Opfer mit geradezu angsteinflößender Zärtlichkeit ins Jenseits lockt. Ihre sirenenhaften Gesänge werden zusätzlich noch von Dirigent Ingo Metzmacher umschmeichelt, der am Pult einerseits klar und strukturiert agiert, aber gerade im differenzierten Zusammenspiel mit den glänzend disponierten Chören des BR und WDR auch die menschliche Tragödie schonungslos herausarbeitet. Ein emotionaler Magenschwinger, der im gern mal zum Hedonismus neigenden Salzburger Festspiel-Ambiente genau richtig platziert ist und vielleicht auch den einen oder die andere zum Nachdenken bringt.TOBIAS HELL

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