Lese- und Lebensglück: Michael Schleicher (hier mit Bubu) bei der Lektüre im Olivenhain von Gianni Tamburini in der Toskana. © Isabel Boergen
Als diese Zeilen gestern Vormittag geschrieben wurden, hatte es in Tel Aviv 29 Grad Celsius. Das ist nicht ganz unwichtig, denn es steigert die Freude an der Lektüre dieses Romans, wenn er an heißen Orten gelesen wird. So wird Lesen zum ganzheitlichen Erlebnis. Denn der Autorin Daria Shualy gelingt es, die flirrende Hitze, die ihren Figuren zu schaffen macht, selbst zur Protagonistin der Geschichte zu machen.
Doch auch wer in kühleren Weltregionen seinen Urlaub verbringt, wird „Lockvogel“ gebannt und mit Gewinn lesen. Im Zentrum steht Masi Morris, in der die Schriftstellerin viele Aspekte vereint hat, die das Personal in Detektivgeschichten ausmacht: Morris ist ein gebrochener Charakter, war einst bei der Polizei, ermittelt jetzt auf eigene Faust. Sie ist taff und doch sensibel, nimmt sich, was sie braucht – und bekommt trotzdem immer wieder die Härte des Lebens zu spüren. Ihre Methoden sind mitunter unangemessen, aber irgendwie halt unwiderstehlich. Kurz: Wer sich im Genre auskennt, wird Figuren wie dieser bereits begegnet sein. Es stört in keinem Moment.
In „Lockvogel“ (der Roman ist gerade auch als reisetaugliches Taschenbuch erschienen) erhält Masi Morris von ihrem Jugendfreund den Auftrag, sich sofort auf die Suche nach seiner Ehefrau zu machen. Jasmin Schechter, Tochter einer der reichsten Familien des Landes, scheint spurlos aus einem Café in Tel Aviv verschwunden zu sein. Morris beginnt mit ihrer Arbeit und kommt recht schnell darauf, dass es hier um mehr geht, als um eine Entführung.
Daria Shualy hat als Journalistin gearbeitet, bevor sie als Autorin debütierte. Davon profitiert ihr Stil: In knappen Sätzen skizziert sie Figuren, Orte, Atmosphären. Sie versteht etwas von Dramaturgie, vom Spannungsaufbau und weiß, wann sie erzählerisch Tempo machen muss. Besonders gut glücken ihr die Frauenfiguren, die bei Genre-Literatur ja häufig arg ausgedacht (oder vom Autor zurechtfantasiert) sind. Eines noch: Legen Sie sich nicht zu früh fest, wer hier der „Lockvogel“ ist. MICHAEL SCHLEICHER
Daria Shualy:
„Lockvogel“. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, Zürich, 432 Seiten; 16 Euro.