Das Wunder des Erzählens

von Redaktion

Dorothee Elmiger ist mit „Die Holländerinnen“ für den Buchpreis nominiert

Im Herz der Finsternis: Dorothee Elmiger folgt in ihrem Roman einer Theatertruppe in den Dschungel, die dort einen abenteuerlichen Fall in einer Inszenierung nacherleben will. © H. Fricke

Eine „bedeutende Erzählerin“, „eine der wichtigsten Stimmen dieser Zeit“, wie die Einladenden sie vorstellen, wird ihrem Auditorium über mehrere Tage einen Vortrag halten. Natürlich über ihr Schaffen. Sie stellt als Erstes klar, dass sie bis vor Kurzem mühelos eine schlüssige Theorie hätte liefern können. Nun aber gibt es keine feste Ordnung mehr, keine Gewissheit, nichts Greifbares.

Dorothee Elmiger, Jahrgang 1985, eine Schweizer Autorin, die in New York lebt, fängt ihren Roman „Die Holländerinnen“ denkbar spröde an. Obendrein hält sie den fast kompletten Text über die indirekte Rede durch. Gerade wurde ihr Werk, das jetzt erschienen ist, in die Vorauswahl für den Deutschen Buchpreis gewählt.

Wie’s bei den Künsten oft so ist, die uns „schwer“ erscheinen, entwickeln sie eine bisweilen rasende Spannung. Hier bei der Literatur blitzen Kriminalroman, Träume, Erinnerungen, Psychothriller, Horror und Phantastik grell auf, verstören – und verlöschen wieder. Die Erfahrungen, die die Schriftstellerin im Buch machte, gründen in der Einladung des „Theatermachers“. Er, besessen von Werner Herzog und seinen Filmen „Aguirre, der Zorn Gottes“ und „Fitzcarraldo“, möchte wie dieser im Dschungel arbeiten. Und zwar nach seiner Theatertheorie des Nacherlebens und der Identifikation. Die Literatin soll dieses Hineingleiten als Protokollantin begleiten.

Sie stürzt sich, ohne nachzudenken, in das Abenteuer, zumal sie gerade an einem Buch über Blindheit gescheitert ist. Damit ist bereits der erste Hinweis gegeben: das echte Nichts-sehen-Können, etwa in der totalen Finsternis der Nacht am Äquator plus Dschungeldickicht, beziehungsweise die metaphorische Blindheit. Sie kann zur seherischen Weisheit führen oder zur katastrophalen Orientierungslosigkeit. Die wird bereits auf der so umständlichen wie verwirrenden Anreise unangenehm fühlbar.

Am Rand des Urwalds zur Meeresküste hin und in der Nähe der dortigen Flussmündung trifft die Künstlerin auf den „Theatermacher“ und sein Team aus Produktionsassistentin, Kostümbildnerin und Bühnenbildner, Dramaturg und Kameramann, Tontechniker und einer einheimischen Bäuerin. Die beiden „Holländerinnen“, die Elmigers Buch seinen Titel geben, sollen die Schweizerin Liesbet de Vries und Ida Holmboe sein – und sie nicht nur spielen. Der Regisseur erweist sich als Zitaten-Schleuder (von Adorno bis Lacan), also als Angeber, der ungern selbst denkt, sich dafür umso rücksichtsloser gegen andere verhält. Wieder ein Grund abzuhauen. Die Schriftstellerin will trotzdem durchhalten.

Das Bedrohungsgefühl in uns und ihren Protagonisten erzeugt Dorothee Elmiger brillant durch die Schilderung der Dschungelnacht. In der Unsichtbarkeit erwacht das gigantische Wesen aus Fauna und Flora dröhnend laut und unheimlich regsam zu einer nicht fassbaren Lebens-Explosion. Diese ist es, die die „Holländerinnen“ verschlungen hat. Gefunden wurden nur noch ihr Rucksack und ein Handy, dessen 91 Fotos der Nacht den verzweifelten Versuch, sehen zu wollen, trostlos dokumentieren. Diese Geschichte will der „Theatermacher“ nacherleben lassen. Wenn seine Truppe bei strömendem Regen in den Wald vordringt, modelliert Elmiger ein gnadenlos gleichgültiges Naturszenario.

Ihre Autorinnen-Figur ist ihm entkommen. Jegliches Denken in Strukturen sei dahin, betont sie vor dem Publikum, eine ordentliche Schilderung könne sie nicht vorlegen. Sie werde nur ihre fragmentarischen Notizen vortragen. Die seien teils durch den Regen fast unleserlich, teils, weil sie nach einem Sturz mit der linken Hand schreiben musste. Und dann geschieht das Wunder des Erzählens. Diese Fertigkeit, die die Menschen wohl seit ihrem Anbeginn zur Unterhaltung, Selbstvergewisserung, als Überlebenshilfe nutzten, setzt sich wie von selbst durch.

Dorothee Elmiger feiert klug, liebevoll und schön das Erzählen – nur schade, dass der Text unaufmerksam lektoriert ist. Der Bericht ihrer Heldin wird zur Hommage an das Verfertigen von Geschichten. Damit klar ist, dass das nicht nur das Feld der Dichterinnen und Schriftsteller ist, sondern eines, das jeder von uns bespielen darf und soll, gibt es eine Vielzahl von Erzählungen in den „Holländerinnen“.

Die gute alte Strategie der Rahmenfiktion (siehe zum Beispiel „1001 Nacht“), in deren Bauch eine beliebige Menge Binnenstorys Platz hat, geht wunderbar auf. Episoden von seltsamen oder beängstigenden Tierschicksalen, von Gewalt gegen Frauen, von qualvollen Manipulationen des Menschen durch den Menschen werden durch die Geschichten der Theatertruppe fühlbar. Auf diese Weise werden sie Individuen, frei vom „Theatermacher“. Nur er erzählt nicht. SIMONE DATTENBERGER

Dorothee Elmiger:

„Die Holländerinnen“.
Carl Hanser Verlag, München,
159 Seiten; 23 Euro.

Lesung: Dorothee Elmiger stellt ihren Roman am 19. September, 19 Uhr, im Münchner Literaturhaus vor; Karten online unter www.reservix.de oder unter Telefon 0761/888 499 99 sowie ab 1. September an der Tageskasse am Salvatorplatz 1.

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