Kopfüber ins Leben wie Angelika (Lena Urzendowsky)? Das war für Frauen nicht einfach. Davon erzählt „In die Sonne schauen“. © Fabian Gamper/dpa
Sie ist der neue Star am deutschen Kino-Himmel: Die Berliner Drehbuchautorin und Regisseurin Mascha Schilinski wurde bei der Weltpremiere ihres zweiten Spielfilms „In die Sonne schauen“ bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes als sensationelle Entdeckung gefeiert – an ihrem 41. Geburtstag. Sie bezauberte mit ihrem Film die Wettbewerbsjury derart, dass sie mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Im Mittelpunkt von „In die Sonne schauen“ stehen vier Mädchen, die in unterschiedlichen Jahrzehnten auf demselben Bauernhof in der Altmark aufwachsen und auf rätselhafte Weise miteinander verbunden scheinen. Am Donnerstag kommt das GenerationenDrama in die Kinos, anschließend geht es für Deutschland ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film (wir berichteten). Anlässlich der Deutschlandpremiere beim Münchner Filmfest trafen wir Schilinski zum Gespräch im Bayerischen Hof.
Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem außergewöhnlichen Film?
Meine Co-Autorin Louise Peter und ich haben uns schon länger mit ganz feinstofflichen Fragen beschäftigt und wussten nicht, wie wir denen filmisch nachlauschen können. Durch den Vierseitenhof in der Altmark, der später auch unser Drehort wurde, hatten wir das Gefühl, ein filmisches Gefäß gefunden zu haben. Wir hatten uns im Corona-Sommer 2020 dorthin zurückgezogen, um an verschiedenen Drehbüchern zu schreiben. Der Hof war seit Jahrzehnten unbewohnt gewesen; beim Durchstreifen der Räume spürte man die Jahrhunderte, und beim Prokrastinieren malten wir uns aus, wer dort früher einmal gelebt hatte. Wir fanden ein Foto aus den 1920er-Jahren: Da standen, umringt von Hühnern, drei Frauen auf dem Hof, der genauso aussah wie heute, und schauten direkt in die Kamera. Ihr Blick hat uns tief getroffen. Wir fragten uns: Wer waren diese Frauen? Und dann fingen wir an zu recherchieren.
Was haben Sie herausgefunden?
Unter anderem sind wir in historischen Büchern über die Altmark, in denen mehr oder weniger ein verlorenes Kindheitsparadies geschildert wird, auf ein paar verstörende Halbsätze gestoßen. Da wird zum Beispiel ganz pragmatisch beschrieben, wie man die Wäsche zusammenlegt oder die Hühner füttert, und dann wird im selben nüchternen Ton angefügt, die Mägde müssten erst so gemacht werden, dass sie für die Männer ungefährlich seien.
Kein Wunder, dass es auch in Ihrem Film ein paar drastische Szenen gibt.
In unserem Film sehen sich die Protagonistinnen in vier verschiedenen Epochen mit diversen Formen von Gewalt konfrontiert. Dabei hat uns vor allem interessiert, inwieweit Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden – und was für Spuren die Erlebnisse unserer Vorfahren in unseren Körpern hinterlassen. Der Film möchte sozusagen eine Ahnung von unseren Ahnen erzeugen.
In Ihrem Film findet sich auch immer wieder Humor.
Ja, das war uns sehr wichtig. Denn ich weiß zum Beispiel aus Erzählungen meiner Großmutter, dass sogar in finstersten Zeiten witzige Dinge passieren, die später in unseren Erinnerungen ebenso präsent sind wie gewisse Grausamkeiten.
„In die Sonne schauen“ verzichtet auf ein klassisches Handlungsgerüst und enthält nur wenige Dialoge. Sie setzen vielmehr auf sinnliche, atmosphärische, flirrende Bilder und ein ausgeklügeltes Sounddesign.
Ja, ich selbst habe Sehnsucht nach sinnlichen Kinoerlebnissen – und zwar nicht nur für Augen und Ohren: Im Idealfall sollte man im Kinosaal den Eindruck haben, dass man eine Textur spüren oder einen Geruch wahrnehmen kann. Mir geht es darum, in jeder Szene eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Und ich empfehle dem Publikum bei diesem Film, dem Rat des französischen Regisseurs Robert Bresson zu folgen: einen Film zu fühlen, bevor man versucht, ihn zu verstehen. Wahnsinnig gern hätte ich auf analogem Filmmaterial gedreht; ich wollte diese Haptik, das Körnige, das Dreckige – aber das war aus finanziellen Gründen nicht möglich.
Verblüffend! Der Film sieht tatsächlich so aus, als hätte man ihn mit einer analogen Kamera aufgenommen.
Das verdanken wir unserem fantastischen Kameramann Fabian Gamper, der sehr lange experimentiert hat, um diesen Look hinzubekommen. Für mich war das essenziell: dieses Flirrende, Durchscheinbare, Zwielichtige, ähnlich wie in den geisterhaften Fotografien von Francesca Woodman. Der ganze Film sollte sich anfühlen wie ein Fiebertraum – als hätte sich ein Schleier über die Erinnerungen gelegt, sodass man nie sicher sein kann, ob das, was wir sehen, wirklich so passiert ist. Unser Gedächtnis ist ja auch trügerisch: Manchmal erinnern wir uns irrtümlich an Dinge, die in Wahrheit nie stattgefunden haben.
Was wäre aus Ihnen geworden, wenn das mit der Laufbahn als Filmemacherin nicht geklappt hätte?
Alles Mögliche. Meine innere Identität ist überhaupt nicht mit einem Beruf verknüpft. Der Begriff „Beruf“ kam mir schon immer vor wie eine künstliche, seltsame Erfindung. Es gibt so vieles, was mich interessiert! Ich könnte mir zum Beispiel sogar heute noch vorstellen, eines Tages als Gärtnerin zu arbeiten. Wenn es nach mir ginge, könnte ich auch stundenlang eine Obstschale auf dem Tisch nach links oder rechts drehen und schauen, wie sie am schönsten wirkt. Also, wenn das ein Beruf wäre, dann wäre das vermutlich mein großer Traum! (Lacht.)