Wurde im Jahr 2018 entfernt: das Gedicht „avenidas“ an der Alice-Salomon-Hochschule.
Die Schrift selbst wurde bei diesem Lyriker zum Baustoff und Material. Schreiben war das Handwerk des Dichters Eugen Gomringer (1925-2025). © Nicolas Armer/dpa
Es war unerhört, ungesehen und schier unglaublich, was da im Jahr 1953 geschehen ist. Eugen Gomringer brachte mit „konstellationen constellations constelaciones“ seinen ersten Gedichtband heraus. Mit Grafiker Marcel Wyss sowie dem Dichter, Aktions- und Objektkünstler Dieter Roth gründete er zudem die Zeitschrift „spirale“, in der das Trio die Avantgarde aus Fotografie, Grafik und Dichtkunst versammelte. Man kann die Bedeutung des Magazins kaum überschätzen für die Entwicklung der Konkreten Poesie durch Gomringer. Wie berichtet, ist der Lyriker am Donnerstag in seiner Wahlheimat Bamberg gestorben.
„Er war mir die letzten Jahre anvertraut“, schreibt seine Tochter Nora Gomringer in einem berührenden Abschied auf Instagram, „und ich nahm diese Aufgabe furchtbar ernst.“ Eugen Gomringer wurde 100 Jahre alt – „und ich fand es triumphal, dass der Erfinder der Konkreten Poesie mit den Kollegen Jandl und Gappmayr im selben Jahr 100 wurde. Und er es erlebt hat. Irgendwie stellvertretend“, erinnert sich die 45-Jährige, die auch Lyrikerin ist und Direktorin des Künstlerhauses Villa Concordia.
Es ist kein Zufall, dass die Tochter an den österreichischen Dichter Ernst Jandl (1925-2000) und an Heinz Gappmayr (1925-2010), bildender Künstler aus Innsbruck, erinnert. Eugen Gomringers Konkrete Poesie (und in der Folge Jandls) ist ohne Kunst, ohne Architektur, ohne Design nicht denkbar. Inspiriert habe ihn etwa die Zürcher Schule der Konkreten. „Ich habe mir gedacht: Man müsste doch auch mit Worten so einfache Werke schaffen können“, erzählte er im Interview zu seinem 95. Geburtstag. Konkrete Poesie sei für ihn damals das ästhetische Kapitel einer neuen literarischen Weltbewegung gewesen.
Eugen Gomringer wurde am 20. Januar 1925 als Sohn eines Schweizers und einer Bolivianerin in Bolivien geboren, nahe an der Grenze zu Brasilien. Als er etwas älter als zwei war, brachte der Vater ihn zu den Großeltern in die Schweiz, wo er im Kanton Zürich aufwuchs. Er studierte in Bern und Rom, ging danach als Sekretär des Architekten Max Bill an die Hochschule für Gestaltung nach Ulm. Es folgten viele Aufgaben und Berufungen, als Kulturbeauftragter des Porzellan-Herstellers Rosenthal kam er ins bayerische Selb und fand im Freistaat eine zweite Heimat. Im Jahr 1978 wurde er als Professor für Theorie der Ästhetik an die Kunstakademie Düsseldorf geholt.
Trotz aller anderen Tätigkeiten war da stets sein Schreiben. Und damit war Gomringer Anfang der Fünfzigerjahre seiner Zeit voraus, nicht nur seine konsequente Kleinschreibung kündete davon. „ich habe gelegentlich von meinen konkreten gedichten als von blaupausen – blueprints – gesprochen“, notierte er in „poema. Gedichte und Essays“; der Band erschien 2018. „das heisst, ihr geistiger gehalt kann übernommen werden in andere bereiche.“
Auch dieses Prinzip der Vielseitigkeit machte ihn zu einem der wichtigsten zeitgenössischen Lyriker. „der beitrag der dichtung wird sein die konzentration, die sparsamkeit und das schweigen“, heißt es in „vom vers zur konstellation“. Vorbilder dafür fand er nicht nur in der Konkreten Kunst, in der abstrakten Malerei, sondern auch im Fokus auf die Funktionalität, wie er am Bauhaus gelehrt worden war. Gomringers eigene Kunstsammlungen lassen sich heute übrigens im Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt und im Kunsthaus in Rehau, wo er lebte, bestaunen.
Seine Lyrik freilich war aus dem Wissen um die Verführungsmacht einer vergewaltigten Sprache durch die NSPropaganda geboren. Subjektivität und Emotionalisierung setzte Gomringer Skepsis und Klarheit entgegen – Klarheit im Inhalt und in der Form. Ja, die Schrift selbst wurde hier zum Material, zum Baustoff. Das ist wunderschön – zu lesen und zu betrachten.
Kunst war für ihn grenzenlos. Umso absurder mutet in der Rückschau der Streit um das Gedicht „avenidas“ (1951) an, das seit 2011 an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin stand. Auf Druck von Studierenden wurde es 2018 entfernt – die Kritik bezog sich auf den letzten Satz, der lautet: „alleen und blumen und frauen und ein bewunderer“. Damit würden, so die Kritik, Frauen zum Objekt degradiert. Eine Farce, die wirklich nur ein Gutes hatte: Gomringer wurde gelesen. Sprache ist und bleibt eben ein Abenteuer. Er hat es gezeigt.MICHAEL SCHLEICHER