Kleine Lüge – große Folgen

von Redaktion

Ayelet Gundar-Goshen liest in München

„Ich möchte erzählen, worüber niemand sprechen will“, sagt die Autorin Ayelet Gundar-Goshen. © Nicholas Albrecht

Ayelet Gundar-Goshen ist nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Psychologin. Zusätzlich hat sie Film und Drehbuch-Schreiben in Jerusalem gelernt. Sie lebt in Tel Aviv und arbeitet seit dem 7. Oktober 2023 vorwiegend als Trauma-Therapeutin. Die wissenschaftliche Vorbildung merkt man Gundar-Goshens Texten an. Ihre Bücher besitzen immer eine extreme Langzeitwirkung. Die jeweils sehr unterschiedlichen Psycho- und Familiendramen, die sich mal um einen Unfall mit Fahrerflucht drehen wie in „Löwen wecken“, mal um die in die USA emigrierte israelische Familie in „Wo der Wolf lauert“, lassen einen kaum los.

Oft kreist die immer ein wenig unheimlich und bedrohlich anmutende Handlung um die Frage: Was sind Menschen in bestimmten Situationen bereit zu tun? Die Antwort lautet jedes Mal: sehr viel. Leider. Die 1982 geborene Autorin sagt über ihre Geschichten: „Die einzige Literatur, die ich schreiben möchte, ist die, die über die dunkle Seite des Menschseins erzählt. Davon, worüber niemand sprechen will.“

„Ungebetene Gäste“ passt da perfekt hinein. Schon der Auftakt hat es in sich: Naomi ist vor eineinhalb Jahren Mutter des kleinen Uri geworden. Sie ist in Tel Aviv zu Hause, sehr ängstlich und unsicher. Sie hat sich mit Uri weitgehend in der eigenen Wohnung verschanzt. In die Idylle von „Muttermilch, Früchtebrei und Babycreme“ dringt nun, so scheint es der jungen Frau, ein Fremder ein. Ein arabischer Handwerker, den Naomis Gatte Juval mit der Sanierung des Balkons beauftragt hat. Der unbekannte Mann erweist sich trotz Naomis Misstrauen und ihrer Unfreundlichkeit als offen und zugewandt. Doch während er auf der Toilette verschwindet, geschieht ein Unglück: Uri hat versehentlich einen schweren Hammer vom Balkon gestoßen. Und der trifft auf der Straße einen Mann. Tödlich. Die Passanten sind schockiert, und die Losung, es habe sich um einen terroristischen Anschlag gehandelt, wird in der ohnehin politisch aufgeheizten Nachbarschaft sofort laut. Der arabische Handwerker wird festgenommen, während über den eigentlichen Tathergang beharrlich geschwiegen wird.

Es geht wie häufig bei Ayelet Gundar-Goshen um den einen Moment, der das Leben vieler Personen für immer ändert. Es geht um diffuses Unbehagen, um unausgesprochene Ängste, Vorurteile, Misstrauen, um passiv-aggressive Familien und darum, wie schnell sich ein Netz aus Scham und Lügen so sehr verdichten kann, dass man nicht mehr herausfindet.

Die Handlungsstränge von Israel bis Nigeria sind clever miteinander verschlungen, und die Spannung steigt mit jedem Kapitel. Rasant wie in einem guten Krimi erzählt Gundar-Goshen in ihrem verstörenden Psychogramm einer beschädigten Gesellschaft, was eine kleine Lüge anrichten kann – und viele Menschen dadurch in den Abgrund gerissen werden.ULRIKE FRICK

Ayelet Gundar-Goshen:

„Ungebetene Gäste“. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein&Aber, Zürich, 320 Seiten;
25 Euro.

Lesung: Ayelet Gundar-Goshen stellt ihr Buch am 18. September, 19 Uhr, im Münchner Literaturhaus vor; der Abend ist ausverkauft. Karten für den Livestream gibt es online unter literaturhaus-muenchen.reservix.de.

Artikel 4 von 11