NEUERSCHEINUNG

Managerin der Antike

von Redaktion

Ulrike Draesners herausragendes Buch „penelopes sch()iff“

Die begnadete Erzählerin und Dichterin Ulrike Draesner greift auf das Epos von Homer zurück. © Gerald Matzka

Mythen gehören nicht zu Verschwörungskonstrukten, sondern sie sind der Stoff-Wühltisch unserer Kultur. Wer Lust hat, zieht aus ihm etwas hervor und recycelt daraus kreativ Neu-Altes. Ulrike Draesner, Erzählerin, Lyrikerin und Menschen-in-der-Geschichte-Erforscherin, hat mit Unterstützung beim Altgriechischen durch den Altphilologen Jonas Grethlein für ihr Buch „penelopes sch()iff“ aus der „Odyssee“ ein Wörtchen aus dem üppigen Angebot herausgezogen: „muskulös“. Sie hat es in einer neueren englischen Übertragung des Homer’schen Epos gefunden, in den deutschen Übersetzungen wurde es einfach weggelassen: Die 20 Jahre geduldig auf Odysseus Wartende durfte wohl keine „muskelgeschmeidige Spartanerin“ sein (siehe auch unten).

Helden aus der Perspektive der Frau

Die Münchnerin und Wahlberlinerin Draesner (Jahrgang 1962; Professorin an Leipzigs Deutschem Literaturinstitut) ist einerseits eine begnadete Erzählerin („Schwitters“, „Die Verwandelten“), andererseits experimentierfreudig (Lyrik, „Doggerland“). Mit „penelopes sch()iff“ probiert sie sich an der alten Form des Epos aus, also am Erzählen in Versen. Weil sie zugleich ihr Publikum umsorgen möchte und die passende didaktische Neigung hat, erleichtert sie mit ihrem sechsteiligen Vorwort „Penelopes Welt“ den Einstieg und mit einem informativen Anhang das weitere Durchsteigen. Sie berichtet von ihren Gefühlen zu und Erlebnissen mit diesem Mythen-Komplex, insbesondere im Falle von Odysseus und Penelope.

Wir verfolgen, wie sich die Sichtweise bei der erwachsenen Frau dreht, je mehr sie realisiert, dass man die Helden mal aus der Perspektive der Frauen betrachten könnte. Da ist ein Typ, der wehrlose Männer niedermetzelt und danach die Frauen, nur weil sie mit ihnen geschlafen haben – der ist kein Sympathieträger mehr. Klar, Odysseus hat zehn Jahre Trojanischen Krieg und zehn Jahre Herumirren auf dem Meer hinter sich (immerhin konnte er sich lange als Kirkes Lustmolch erholen), trotzdem ist „der bruttl“ (von brutal), wie Draesner ihn nennt, unerträglich geworden.

In ihrem „postepos“ schildert die Draesner, welch gewiefte Herrscherin und Managerin Penelope in Abwesenheit ihres Mannes wurde. Sie mehrte den Reichtum Ithakas und verstärkte ihre Beziehungen zu Frauen aus ganz Hellas, auch ihre Kontakte zu Handelspartnern, ob Phönizier oder Ostasiaten. Längst ist Penelope bewusst, dass sie weg muss, wenn Odysseus zurückkommt. Draesners Verse singen vom Schiffsbau, Rudertraining für alle Frauen inklusive Ex-Sklavinnen und von raffinierten Täuschungen mittels falscher Sirenen.

Die Frauen, sogar Odysseus‘ Mutter Antikleia, stechen heimlich in See. Die Chefin weiß, dass sie schnell das Gebiet der Hellenen verlassen muss und lässt gen Norden rudern. Ulrike Draesner vermag ihr lyrisches Talent im Lebendigwerden der Fische und Vögel, der Wellen, des Lichts sowie bewegend in der Qual von Heimweh und Zweifeln, von Flaute und körperlicher Schufterei, in der Sehnsucht nach der zurückgelassenen Oinone wunderschön zu entfalten. Die Verse tragen einen als Leserin und Leser wie die sanften Wellen des adriatischen Meers, dem sich das Schiff nähert.

Zum Epos gehört Dramatisches. Die Schriftstellerin lagert diese Episoden aus. Sie lässt Penelopes Töchter Medusa, Oinone und Andreia – die Königin hatte ihren Spaß mit den Freiern – sowie Antikleia und die Ex-Sklavin Charis sprechen. Melantho allerdings kann nur denken. Ihr Bericht ist zutiefst erschütternd. Er gräbt in unser Herz und Hirn die immerwährende Gewalt gegen Frauen. Eine Tatsache, die heute so aktuell ist wie vor vielen, vielen Jahrhunderten. Die einstige Sklavin hat erlebt, wie weibliche Körper zerhackt wurden. Ihr selbst wurde ein Arm abgetrennt, obendrein schnitt man ihr die Zunge heraus.

Die Autorin gönnt der Schiffsfrauschaft nach der Flucht ein glückliches Ankommen in einer Lagune, wo sich Land und Meer, Süß- und Salzwasser vermählen. Wir „wissen“ nun, wer Venedig gegründet hat, beim Mythos ist eben alles möglich. Und damit einander endlich die eine Text-ilie webende Künstlerin Penelope und die einen Textschreibende Künstlerin treffen, lässt uns Ulrike Draesner, ganz experimentierende Lyrikerin, zuschauen: Wie fügt sich alles zu einem (Wort-)Gewebe, das der Verlag grafisch elegant und witzig umgesetzt hat. So ist ein inhaltlich herausragendes und bibliophiles Buch entstanden.SIMONE DATTENBERGER

Ulrike Draesner:

„penelopes sch()iff“. Penguin Verlag, München, 297 Seiten;
35 Euro.

Lesung am 24. September, 19 Uhr, in der Münchner Stiftung Lyrik-Kabinett, Amalienstraße 83 A/RG; Karten an der Abendkasse.