„Shut up and listen!“ Van Morrison ist auch auf seine alten Tage noch ein begnadeter Live-Musiker, dem man seine volle Aufmerksamkeit schenken sollte. © imago stock
Der größte Grantler der Rockmusik wird 80 Jahre alt. Wobei beides sich die Waage hält: Van Morrisons legendär schlechte Laune und seine Großartigkeit. Zu den gerne erzählten Anekdoten der Rockgeschichte gehört, dass er Mitmusiker auf der Bühne fast verprügelte, weil sie sich verspielten. Produzent Ted Templeman gab nach den Arbeiten an Morrisons Album „Tupelo Honey“ 1971 zu Protokoll, er habe vor Verzweiflung über die Launen des Künstlers geweint.
Als die bekifften Hippie-Kids im Club „Whisky A Go Go“ 1969 in Los Angeles Morrisons unerhörten Jazz-Rock-Reigen „Astral Weeks“ nicht gebührend würdigten, sondern schwätzten, brüllte er sie an: „Will you shut the fuck up and listen?“ Auf der anderen Seite schaffen es nur wenige Pop-Künstler, mit ihrer Musik eine Spiritualität zum Klingen zu bringen wie der Ire.
Ein anderer Publikumsbeschimpfer hat diese emotionale Kraft von Van Morrisons Stimme in Worte gefasst: Peter Handke schreibt im „Versuch über den geglückten Tag“ über das nur zwei Minuten lange Stück „Coney Island“, in dem Morrison darüber rhapsodiert, wie er mit seiner Frau den Tag verbringt, die Zeitung liest, Fische kauft, durch den Sonnenschein fährt, zu Abend isst. „Von jenem Tag wird mehr sprechend als singend erzählt, sozusagen sang-, klang- und tonlos, ein Murmeln gleichsam im Vorübergehen, dabei aus einer mächtig geweiteten Brust, im Moment der größtmöglichen Weite jäh abbrechend.“ Es sei die perfekte Beschreibung eines geglückten Tages.
George Ivan Morrison, der dieses gurrende, knurrende, seelenvolle Organ sein Eigen nennt, wird am 31. August 1945 in Belfast geboren. Sein Glück ist, dass sein Vater wohl die bestbestückte Plattensammlung Nordirlands besitzt – er hat zuvor als Elektriker in Detroit gearbeitet. Van wird fast zwangsläufig zum Jazz-, Folk-, Soul und Rhythm-and-Blues-Kenner. Nach ersten Gehversuchen tut er sich 1964 mit Gleichgesinnten in der Gruppe Them zusammen – benannt nach einem Horrorfilm. Der Song „Gloria“ zeigt schon die Ekstase, zu der er fähig ist. Ein Garagen-Rock-Stück, in dem Morrison den Namen seiner Angebeteten brüllend buchstabiert. Patti Smith erweitert das Lied in ihrer Coverversion später um das „In Excelsis Deo“, doch die Transzendenz ist im Original schon angelegt.
Sein erster Solo-Hit „Brown Eyed Girl“ ist eher ein Ausrutscher in Richtung Pop – seine musikalische Sprache findet Morrison in dem unerhörten Amalgam von „Astral Weeks“. Pastorale Folksongs von Jazzmusikern gespielt, die Morrison zuvor nie gesehen hat. Er spricht in Zungen, die Texte ein Bewusstseinsstrom, die Stimme gebraucht er wie ein Instrument. Der Nachfolger „Moondance“ erweitert das Ganze um Rockmusik – Morrison hat seine Formel gefunden: Epen wie „Listen to the Lion“ oder „Summertime in England“, aber auch Hit-Balladen wie „Have I told you lately“ sind keltischer Soul, spirituelle Hochämter. Der Sänger flirtet kurz mit Scientology, kommt aber zu dem Schluss, dass er mit „No Guru, no Method, no Teacher“ besser dran ist.
Was man von vielen seiner Zeitgenossen nicht sagen kann: Die Achtziger sind gut zu ihm. Überhaupt kann man auch heute noch feststellen: Vielleicht ist nicht jedes Van-Morrison-Album ein Meisterwerk. Aber eine schlechte Platte von ihm sucht man vergebens, egal, worin er sich versucht – Swing, Skiffle, Blues, Jazz. Wie Eric Clapton verliert er im Laufe der Corona-Pandemie die Nerven und schreibt Anti-Lockdown-Songs, aber das erwartet man ja fast vom Grantler.
Nur wenige Musiker sind auf ihre alten Tage so produktiv wie er: Morrison bringt jedes Jahr ein neues Album heraus – und könnte noch viel mehr veröffentlichen: „Es gibt neue Arrangements und Projekte, die einfach nur herumliegen und Staub ansetzen“, erzählt er in einem auf seiner Website veröffentlichten Interview. „Der Vertrieb kann nur eine bestimmte Menge auf einmal bewältigen.“ Dieses Jahr schaffte „Remembering Now“ etwas Abhilfe, darauf sind Lieder, die er schon vor Jahren aufgenommen hatte. Etwa „Down to Joy“, das 2021 im Film „Belfast“ von Kenneth Branagh zu hören und für einen Oscar nominiert war.
Auszeichnungen hat „Van the Man“ oder der „Belfast Cowboy“, wie er auch genannt wird, zuhauf erhalten. So ist auch er ein „Sir“. Ray Charles führte ihn in die Songwriters Hall of Fame ein. Nicht zu jeder Ehrung erschien er freilich: Die Einführung in die Rock’n’Roll Hall of Fame schwänzte Morrison. Er ist eine Legende, ein Kult-Künstler – und es ist ihm herzlich wurscht. „Mein Job ist es, Musik zu machen.“ Möge er noch lange weiterschimpfen.JOHANNES LÖHR