Wozu Regie?

von Redaktion

Ein Rückblick auf den diesjährigen Festspielsommer

Eine Enttäuschung: Münchens „Don Giovanni“. © G. Schied

Wagner als muntere Show: Bayreuths „Meistersinger“ in der Regie von Matthias Davids. © E. Nawrath

Höhepunkt des Festivalsommers: Mozarts „Zaide“ in der Salzburger Felsenreitschule mit Sabine Devieilhe und Julian Prégardien in einer Konzeption von Raphaël Pichon. © Marco Borrelli

Wenn das so weitergeht, sind wir irgendwann bei der TikTok-Oper. 100, 90, sogar nur 64 Minuten: Für Sitzfleischlose hatte Salzburg das passende Premierenangebot. Wobei sich bei letzterem Quickie, der Koppelung von Schönbergs „Erwartung“ und Mahlers „Abschied“, die Kostenfrage stellt: Dafür über 300 Euro ausgeben? Vor diesem Hintergrund war diese Produktion in der Felsenreitschule ungewöhnlich bis fragwürdig, zugleich auch typisch. Verantwortlich für den Abend zeichnete Peter Sellars. Und nicht nur seine Arbeit führt vor: Die Regisseure mit den großen Namen sind müde geworden, die Grenze vom Stil zur Masche wurde vielfach überschritten. Es ist das traurige Ergebnis dieses Festspielsommers, der an diesem Wochenende endet.

Intendanten zwischen Treue und Risiko

Sellars gehört zu dieser Regie-Riege, aber auch Dmitri Tcherniakov (der Händels „Giulio Cesare“ im Salzburger Haus für Mozart in den Bunker steckte) oder Ulrich Rasche, der sein Bühnenpersonal bei Donizettis „Maria Stuarda“ erneut auf seine monumentalen Drehscheiben schickte. Im Opern-Großformat lieferte Salzburg also Erwartbares. Dass Festspiele Experiment bedeuten müssen, das Erproben neuer Strukturen, das Zusammenführen scheinbar widerstreitender Formen, die Neugier auf Nachbarkünste, das passierte ausgerechnet in der kleineren Dimension. Man nehme nur Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“. Georg Baselitz, Star der bildenden Kunst, schuf fürs Salzburger Marionettentheater wundersame Zauberfiguren. Eine zartbittere, musikalisch höchstklassig begleitete Produktion.

Auch im Konzertprogramm glückten solche Berührungen und Überschreitungen. Die „Nachtmusiken“ mit Bariton Georg Nigl und Pianist Alexander Gergelyfi, zu denen sich ab und zu Schauspieler August Diehl gesellte, sind das beste Beispiel, im dritten Jahr Kult geworden und beweisen: Das Publikum sehnt sich nach neuen Formaten, vorausgesetzt, sie werden so intelligent und sinnlich gestaltet wie hier. Und ein Paradox: Ausgerechnet die nach Kündigung von Marina Davydova verwaiste Schauspielsparte zog manchmal an den Opernspektakeln vorbei, nicht zuletzt mit den „Letzten Tagen der Menschheit“ (Regie: Dušan David Parízek) oder dem „Schneesturm“ (Kirill Serebrennikov).

Wer es positiv sehen mag: Salzburgs Festspielintendant Markus Hinterhäuser ist treu. Um sich herum hat er einen Regiefreundeskreis aufgebaut, dem er vertraut. Nächstes Jahr kehrt Romeo Castellucci für „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen zurück. „Keine Experimente“ sagt diese Programmatik – für Festspiele, die sich ja als Avantgarde verstehen müssen, als Ort der selbst verordneten Unsicherheit, ein fatales Credo.

Ganz klar: Wer diese Pfade verlässt, setzt sich einem Risiko aus. Katharina Wagner hat das in Bayreuth gewagt. Die einzige Festspiel-Premiere, „Die Meistersinger von Nürnberg“, sollte ein Kontrapunkt zu ortsüblichen (gesellschafts-)politischen Deutungen sein. Matthias Davids, ein Musical-Mann, lieferte wie bestellt. Eine muntere, kurzweilige Aufführung, die zwei Sachen vor Augen führte: Wagner hat so gut wie keinen Humor. Und: Das Stück funktioniert nur mit einem philosophischen Überbau. Egal, es war ein Versuch.

In seiner Unbekümmertheit, auch in seinem Regie-Handwerk ist Matthias Davids jedenfalls weiter als Kollegen, die sich ins Stück verbeißen. Die sich in ihrer Neubefragungswut auf einen Aspekt fokussieren und dabei ausblenden: Große Werke bestehen mitnichten aus nur einer Bedeutungsebene. Ausgerechnet an der Bayerischen Staatsoper ist das passiert. Bei Mozarts „Don Giovanni“ ließ David Hermann die höllische Proserpina in den Titelhelden fahren – nur weil ihr Name auf den letzten Partiturseiten auftaucht. Das szenische Ergebnis: durchaus ansehnlich. Die inhaltliche Motivation: gleich null.

Der Münchner Mozart ist der Gegenpol zu einem Salzburger Mozart, zur Erweiterung des Opern-Fragments „Zaide“. Dirigent Raphaël Pichon stockte die unvollendete Partitur um andere Mozart-Werke auf. Ein brillant gedachter, berührender Abend. Eine Aufführung, die musikalisch und szenisch alles richtig machte. Und die, das ist die größte Pointe, ohne Regisseur auskam. Weil sie auf die Kraft, das Potenzial, die Präsenz und die Intelligenz ihrer Sängerinnen und Sänger vertraute. Die mussten nicht Marionetten eines Regie-Konzepts sein oder bloß ausführende Organe.

Der Höhepunkt der Festspielsaison zeigt damit (ungewollt?) anderes: Es ist eine – auch medial genährte – Mär, dass Figurenführung und szenische Genauigkeit allein aufs Konto der Regie gehen. Sängerinnen und Sänger bieten mehr Voraussetzungen, als sich das mancher so denkt. Man muss sie nur fordern und lassen. Der Verantwortliche sollte sich also, wie einst Dieter Dorn, als „Dompteur einer gemischten Raubtiergruppe“ begreifen. Dies ist das aparteste Ergebnis des Sommers. Im Zweifelsfall funktioniert alles auch ohne Regie. Markus Thiel

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