Sie schreibt über das, was viele lieber verschweigen – ohne Umschweife, Schnörkel oder Schönrederei. Annie Ernaux (Foto: Anders Wiklund) ist von fast schmerzhafter Direktheit. Eine Kostprobe davon liefert ihr gerade bei Suhrkamp auf Deutsch erschienener Roman „Die Besessenheit“ („L‘occupation“) über Eifersucht. Nur rund 100 Seiten, dicht, roh, ja beinahe brutal – so wie das Gesamtwerk der französischen Nobelpreisträgerin, die heute 85 Jahre alt wird.
In ihrer klinisch klaren Sprache beschreibt die Französin die obsessive Eifersucht nach dem Ende einer Liebesbeziehung: die Fixierung auf die neue Partnerin ihres Ex-Geliebten. Eine Ausnahmesituation, seziert mit literarischer Präzision, die sich jeder Sentimentalität verweigert. Seit Jahrzehnten widmet sich Ernaux der Frage, wie Erinnerung, Scham, Begehren und soziale Herkunft das Leben formen. Ihre Bücher lesen sich wie ein radikales Selbstekundungsprojekt. „Ich bin nicht jemand, der Geschichten erfindet. Ich suche nach einem kollektiven Sinn im Persönlichen.“
Millionen greifen seit ihrem Nobelpreis 2022 zu ihren Büchern, fasziniert von einer Sprache, die radikal klar und knapp ist, dokumentarisch nüchtern und von emotionaler Wucht. 1940 in der Normandie geboren, wächst Ernaux in einfachen Verhältnissen als Tochter eines Paares auf, das einen Lebensmittelladen führt. Nach dem Studium der Neueren Literatur erlebt sie den frühen Tod ihrer Schwester – und wie Sprache Türen öffnen oder verschließen kann. Ernaux erzählt von dem, was anderen peinlich ist: die Scham über die eigene Herkunft („Der Platz“), ihre Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann („Eine Leidenschaft“) und eine heimliche Abtreibung („Das Ereignis“). SABINE GLAUBITZ