Blickt kritisch auf Israel: Yishai Sarid. © Katarina Ivanisevic
Yishai Sarids Romane beschreiben klarer als jeder noch so kluge Kommentar oder jede noch so ambitionierte journalistische Reportage die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft. In „Monster“ ist der Protagonist ein vom ritualisierten Holocaust-Gedenken frustrierter Yad-Vashem-Tourguide, der erkennen muss, dass die Lehren der Überlebenden verblassen und politisch missbraucht werden. In „Siegerin“ beschreibt Sarid eine Militärpsychologin, deren Job es ist, die von den Kriegen gegen die arabischen Nachbarn traumatisierten Soldaten wieder fit fürs Kämpfen zu machen. In „Chamäleon“ nun, Sarids neuem Werk, geht es um einen in die Jahre gekommenen, einst eher linksliberalen Zeitungsjournalisten, der sich den regierenden rechten und auch rechtsradikalen Mächtigen andient, um nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Es ist Sarids erster Roman nach dem Trauma des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober 2023 – und die intellektuelle Brillanz und Vielschichtigkeit aus „Monster“ oder „Siegerin“ ist einer Verbitterung gewichen, die den Autor seine politischen Botschaften klarer und plakativer verkünden lässt. „Ihr habt genug zerstört“, schmettert da in einer Schlüsselszene die Mutter eines im Gaza-Krieg zum Krüppel geschossenen Soldaten dem Ministerpräsidenten entgegen – unverkennbar ist Benjamin Netanjahu gemeint, auch wenn dessen Namen kein einziges Mal fällt. „Es war mal ein guter Staat, und ihr habt Scheiße daraus gemacht.“
Shai Tamus, der von Geldsorgen und unbefriedigtem Ehrgeiz geplagte Protagonist des Romans, lernt, dass im Journalismus des Internet-Zeitalters seine ausgewogenen Kommentare, die zwischen rechten und linken, religiösen und säkularen Israelis vermitteln wollen, niemanden mehr interessieren. Wer Clicks für Artikel bekommen will, muss radikale Meinungen in die asozialen Medien blasen – und nur wer viele Clicks hat, kommt in die Fernseh-Talkshows, wo die eigentliche journalistische und politische Macht sitzt. Shai gelingt ein Comeback, indem er radikale rechte Parolen übernimmt, an die er selbst gar nicht glaubt. Um Online-Aufmerksamkeit zu bekommen, diffamiert er sogar die Angehörigen der Hamas-Geiseln. Er kommt so nah an die Macht, gewinnt die Gunst des diabolischen Ministerpräsidenten. Und verliert seine Seele – ein moderner „Mephisto“, wie ihn einst Klaus Mann in seinem Roman über Gustav Gründgens‘ Nazi-Verstrickungen beschrieben hat.
Sarids Buch ist das Psychogramm eines Karrieristen, der an seiner eigenen Unmoral zugrunde geht. Aber es ist auch die gnadenlose Entzauberung einer Medienwelt und einer Politik, in der Werte und Anstand kaum noch zählen – und Rechtsradikalismus und Gewalt freie Bahn bekommen. Eine bittere Analyse, die leider nicht nur auf Israel, sondern längst auch auf unsere europäischen Demokratien übertragbar ist.KLAUS RIMPEL