Körperliche Nähe lässt die seelisch verwundete Violetta (Andromahi Raptis) erst in der Begegnung mit Alfredo (Sergei Nikolaev) zu. © Pedro Malinowski
Eine Themenparty, ein angesagter Club. Doch das Bunny-Kostüm wird hier zum Verhängnis. Viele Cocktails später inklusive ein paar eingeworfener Pillen kippt der Abend für Violetta in die Hasenjagd. Die Grenze zur Willenlosigkeit ist längst überschritten, als sie von geilen Kerleböcken ins Nebenzimmer gedrängt wird. Eine Vergewaltigung, die Handy-Kamera läuft mit – die Szene wird sofort ins Netz gestellt. Die Kommentarspalte läuft mit Widerlichem voll, Anfeuerungen sind das „Harmloseste“.
Das Internet vergisst nichts. Weder die Videos, mit denen Violetta samt Freundinnen für die digitale Welt ihre Lippenstifte und Puderfarben ausprobieren (vor Beginn der Aufführung läuft das auf dem Vorhang). Und erst recht nicht ihr für alle sichtbares Lebenstrauma. Beziehungen, körperliche Nähe? Ab sofort undenkbar.
Eine Möglichkeit von Liebe glimmt erst Jahre später auf in der Begegnung mit Alfredo. Auf dem Höhepunkt des ersten Duetts riskiert sie einen Kuss. Doch das Vergewaltigungs-Video wird auch von Alfredos Familie registriert. Alles vergebens, Violetta gleitet in die Alkoholsucht und schneidet sich den Hals auf. Im letzten Bild tritt sie singend aus ihrem Körper, der überforderte Alfredo und die Freunde barmen am Klinikbett, in dem eine komatöse Frau liegt.
Darf man Verdis „La traviata“ so aufrollen? In der Nacherzählung wirkt das wie eine stereotype Modernisierung. Doch tatsächlich stößt Regisseurin Ilaria Lanzino am Staatstheater Nürnberg in den Kern der Tragödie vor. Diese verstörte zur Uraufführungszeit das Publikum und sollte es daher auch jetzt tun. Brandmarkung, gesellschaftliche Ächtung, schonungsloser Realismus, dafür findet Lanzino eine Übersetzung ins Heute. Keine Sekunde tappt sie dabei in die Aktualisierungsfalle. Schon einmal hat Lanzino in Nürnberg irritiert, als sie bei Donizetti die Geschlechter verwischte und die Geschichte des schwulen Lucio di Lammermoor erzählte. Auch ihre „Traviata“ ist mehr als riskant. Atemlos verfolgt man jede Szene und gleicht das unwillkürlich mit dem Übertitel-Text ab, um zu konstatieren: Alles geht verblüffend auf.
Auf Martin Hickmanns Showtreppen-Bühne werden wilde Partys gefeiert, einmal schiebt sich das Spießerzimmer der Germonts herein. Die ganze Familie sitzt am Tisch, das Drama der Germont-Tochter, Alfredos Schwester also, die doch standesgemäß verheiratet werden soll und deren Leben angeblich durchs Eindringen eines Girlies befleckt wird, arbeitet die Aufführung plastischer als gewohnt heraus. Bis in die stummen Nebenrollen entfaltet alles enorme schauspielerische Energie. Jede Geste, jeder Gang ist wie aus dem Augenblick motiviert.
Verdis Evergreens missraten nie zu Schaustücken. Die Zerrissenheit in Violettas „E strano“, die heftige Auseinandersetzung mit Alfredo im Duett des zweiten Akts, die vergeblich aufglimmende Utopie in der Todes-Arie „Addio del passato“, all das wird ungewöhnlich ernst genommen. Auch weil das Protagonistenpaar sehr lyrisch und damit fast quer besetzt ist. Sergei Nikolaev gestaltet den Alfredo mit feiner, nie forcierter Intensität. Andromahi Raptis macht das Existenzielle jenseits des Schönklangs hörbar – alle Töne auch in der Stratosphärenlage sind da, jedoch nie mit Diven-Aplomb vorgeführt. Der kleine Stimmklirrfaktor sollte sich noch geben. Umso größer freilich ist die Kluft zum sonoren Wohllaut von Sangmin Lee als Giorgio Germont.
Sehr eng ist das alles mit dem Geschehen im Orchestergraben verzahnt. Dirigent Björn Huestege weiß, wo er zulangen kann mit der Staatsphilharmonie Nürnberg und wo er die Stimmen nicht gefährden darf. Tempi und Agogik sind extrem flexibel. Bläser-Korrespondenzen und andere Details treten organisch zutage. Manchmal bremst Huestege ab, doch ist dies nie Auskosten, sondern immer aus dem dramatischen Augenblick gedacht. Man hört, wie genau gearbeitet wird. Und man erlebt, wie überzeugt und damit überzeugend sich alle diesem musikalisch-szenischen Konzept hingeben. Ganz ohne Traditionen zu verraten entsteht da ein Bühnenschlager wie neu – eine Aufführung, die in Herz und Hirn trifft.
Nächste Vorstellungen
am 8., 13., 16. und 26. Oktober; Telefon 0911/ 660 69 60 00.