Wenigstens einen perfekten Satz zu schreiben, ist László Krasznahorkais Ehrgeiz. Der Nobelpreis legt nahe, dass ihm das bereits gelungen ist. © Janos Marjai / epa
Gesellschaftlicher Verfall, Niedertracht, wahnhafte Persönlichkeiten sind die Themenfelder, die das literarische Werk des Ungarn László Krasznahorkai durchziehen. Als einen „zeitgenössischen ungarischen Meister der Apokalypse“ bezeichnete ihn die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag (1933-2004). Nun hat Krasznahorkai (71) den Nobelpreis für Literatur erhalten.
Er ist der zweite Ungar nach Imre Kertész (1929-2016), der die höchste literarische Weihe im Jahr 2002 entgegennahm. Zu den bekanntesten Werken Krasznahorkais gehören „Satanstango“ und „Melancholie des Widerstands“. In Deutschland erscheinen seine Bücher bei S. Fischer, zuletzt kam dort 2023 ein Erzählband heraus.
Die Kritik würdigt an Krasznahorkais Werk die stilistische Brillanz, die feine Ironie, den subtilen Bau seiner Geschichten. Er konstruiert lange Sätze, die sich oft über viele Seiten oder sogar über ein ganzes Buch hinziehen können – als Vorbilder nennt er Kafka und Dostojewski. „Wie viele andere osteuropäische Autoren verfügt Krasznahorkai nicht nur über die Erfahrung eines repressiven Systems und weiß aus erster Hand, was das mit Literatur macht“, sagte Denis Scheck der Deutschen Presse-Agentur. Krasznahorkais Werke zeichneten sich durch eine finstere Sicht auf die Welt, aber auch durch Komik aus, sagte Scheck. Besonders schätze er das Werk „Baron Wenckheims Rückkehr“: „Darin erfahren Sie alles, was Sie über Ungarn und über Viktor Orbán wissen müssen.“
Auch in seiner Heimat wird Krasznahorkais Werk gerne als Allegorie auf gegenwärtige Zustände gelesen, in denen Demagogen ihre Bevölkerungen verführen und Alleinherrschaften errichten. Dabei will der Autor sein Schreiben gar nicht als Kommentar zur aktuellen Politik aufgefasst wissen. „Ich möchte nie einen politischen Roman schreiben“, zitierte ihn 2014 die „New York Times“. „Mein Widerstand gegen das kommunistische Regime war nicht politisch, er richtete sich gegen die Gesellschaft.“
Geboren in der Kleinstadt Gyula, studierte Krasznahorkai zunächst Jura in Szeged, dann ungarische Literatur in Budapest. Nach 1987 lebte er immer wieder für längere Zeiten in Berlin, bereiste aber auch China, die Mongolei, Japan und die Vereinigten Staaten. In New York lebte er eine Weile in der Wohnung des Beat-Poeten Allen Ginsberg (1926-1997), der ihm beim Finden von Lösungen für literarische Probleme half, wie Krasznahorkai es später beschrieb.
Sein erster Roman „Satanstango“ (1985) zeichnet ein düsteres Bild vom Leben in einer Provinzortschaft im damals kommunistischen Ungarn. Einer ihrer Bewohner, der totgeglaubte Irimias, taucht nach langer Abwesenheit wieder auf und inszeniert sich als prophetische Figur. Er manipuliert hetzt die Bewohner gegeneinander auf. Gegen Ende stellt sich heraus, dass er ein Stasi-Agent ist, der die von ihm entfesselten Niederträchtigkeiten an die Zentrale meldet.
Auch im Großwerk „Melancholie des Widerstands“ (1989) geht es um das Eindringen eines fremdartigen Phänomens in eine Kleinstadt. Hier ist es ein Zirkus, der in die Stadt kommt und den Leichnam eines riesigen Wals auf dem Hauptplatz ausstellt. Von da an erfasst Unruhe die Bevölkerung, Unbehagen steigert sich zum Chaos. Der Verlag beschrieb das Werk als „schwarze Parabel auf Osteuropa“.
Krasznahorkais jüngster Roman „Herscht 07769“ spielt in einer abgelegenen Kleinstadt irgendwo in Thüringen. Gewalt und Schrecken dringen hier in der Gestalt von Neonazis ein, die die Einwohner in Angst versetzen. Das Werk sei als großer zeitgenössischer deutscher Roman beschrieben worden, teilte die Schwedische Akademie mit, weil er „die soziale Unruhe in dem Land auf den Punkt bringt“.
Krasznahorkai lebt bei Budapest und in Berlin. 2015 erhielt er den britischen Man Booker International Prize, 2021 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. „Ich bin den Wörtern ausgeliefert, den Sätzen, die meinen Kopf Millionen Mal und in Millionen Versionen durchlaufen“, sagte er der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Sein einziger Ehrgeiz bestehe darin, wenigstens einen perfekten Satz zu schreiben, „aber in meinem ganzen Leben endete dieser Traum immer nur in einem Fiasko“.GREGOR MAYER