Kritisch und liebevoll ist das Buch von Florian Illies. © Dedert
„Wir sind eine erlauchte Versammlung – aber einen Knacks hat jeder“, vertraute Familienoberhaupt Thomas Mann (re.) seinem Tagebuch an. © Ullstein
Wer heute nach Sanary-sur-Mer fährt, entdeckt am Tourismusbüro eine Gedenktafel. Hier sind sie eingraviert, die Namen der vielen, die zwischen 1933 und 1940 Zuflucht fanden in diesem zauberhaften Örtchen an der südfranzösischen, azurblauen Küste. Bertolt Brecht, Egon Erwin Kisch, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig. Unter diesen Emigranten – und ihnen irgendwie immer enthoben: die Familie Mann. Denn er, „der große Thomas Mann, der deutsche Nobelpreisträger, er will partout kein Emigrant sein. So fühlt er sich nicht. Und so kann es deshalb doch auch nicht sein (in rührender Weise hält er seine Eigenwahrnehmung zeitlebens für die einzig denkbare Wirklichkeit)“, formuliert es Florian Illies treffend.
Heißer Sommer an der Côte d’Azur
Der Bestsellerautor („1913“) hat uns schon einmal mit nach Sanary-sur-Mer mitgenommen. In seinem berauschenden Epochenporträt „Liebe in Zeiten des Hasses“ über die Dreißigerjahre ließ er uns unter anderem dieses „kühnste Gemeinschaftsemigrationsprojekt der deutschen Literaturgeschichte“ erleben. Und weil hier derart viel passierte, widmet er sich nun in seinem neuen Roman „Wenn die Sonne untergeht“ ganz und gar einem großen heißen Sommer an der Côte d’Azur: jenem, den die Familie Mann in Sanary verbrachte. Und der so viel erzählt über diese Sippe.
Schon klar, es gibt wohl keine derart gut erforschte deutsche Familie wie die Manns – aber eben auch keine so faszinierende. Und so ist dieses Buch auch eines für diejenigen, die schon einiges gesehen, gelesen, gehört haben von und über Thomas und Katia, über die Kinder Klaus, Erika, Golo, Monika, Michael und Elisabeth. Über Thomas’ Bruder Heinrich und dessen lebenshungrige Frau Nelly. Auch über Katias Eltern, die steinreichen Pringsheims. Voller Lakonie und Sinn für poetische Bilder erzählt Illies über das Exil der Manns. Manchmal durchaus spöttisch, oft kritisch – aber stets mit liebevollem Blick auf und voller Empathie für diese Suchenden. „Was für eine seltsame Familie ist diese Familie Mann: alle unauflöslich miteinander verbunden, aber oft weniger durch Liebe als durch die Sehnsucht nach Anerkennung, durch Sentimentalität, durch herzliche Abneigung oder Angst. ,Wir sind eine erlauchte Versammlung – aber einen Knacks hat jeder‘, diagnostiziert Thomas Mann im Tagebuch ganz nüchtern.“
Es muss eine irrsinnige Recherchearbeit gewesen sein. Die Herausforderung: nicht das Suchen der Quellen – sondern die schier unendliche Fülle. All die Briefe, all die intimen Erinnerungen der so fleißig Tagebuch schreibenden Familienmitglieder. Durch seinen bewährten Collage-Stil fügt Illies die verschiedenen Perspektiven sämtlicher Manns virtuos zusammen. Chronologisch erzählt, von Februar bis September 1933. Verstörende Gleichzeitigkeiten werden offenkundig, auch der enge Zusammenhalt der Manns, obgleich sie sich gleichzeitig aneinander abarbeiteten.
Fein beobachtet Illies. Wie die Schrecken aus der Heimat sehr vernehmlich auch nach Sanary dringen, wie sich die Geflüchteten dort ihrer Bräune schämen. „Darf man eigentlich so erholt wirken, wo man sich doch auf der Flucht befindet und Deutschland in solcher Gefahr?“ Illies analysiert die Zerrissenheit Thomas Manns mit Blick auf die Frage, inwieweit er politisch Haltung zeigen sollte: sich öffentlich kritisch äußern – und dafür riskieren, dass seine Werke in Deutschland nicht mehr gedruckt werden?
Wieder hat es Florian Illies geschafft, auf leichtfüßige, sinnliche, kurzweilige und sehr amüsante Weise deutsche Geschichte zu erzählen. Ein Buch, das einem im dunklen Herbst von „dahinschmelzenden Tagen“ in diesem vom Glück geküssten Ort in Südfrankreich erzählt. Und daran erinnert, wie schnell aus dem Paradies eine Hölle werden kann. „Wenn die Sonne untergeht in Sanary, dann sieht man manchmal, ganz hinten am Horizont … große dunkle Schatten, die sich ganz langsam von rechts nach links bewegen und von links nach rechts. Es sind die großen Kriegsschiffe aus dem benachbarten Militärhafen von Toulon.“KATJA KRAFT
Florian Illies:
„Wenn die Sonne untergeht“.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 336 Seiten; 26 Euro.
Lesung: Florian Illies stellt seinen Roman am 5. November, 19 Uhr, in den Kammerspielen vor; Karten unter 089 / 23 39 66 00.