Erfolgsautor Sten Nadolny schildert in seinem aktuellen Buch eine Frau, die in eine Männerfreundschaft gerät. © Piper
Der Wunder sind zu viele. „,Grenzt an Kolportage!‘ – ,Unser ganzes Dasein lebt von Kolportage.‘“ Ein Dialog zwischen Michael, dem Schriftsteller, und Helen, der Bord-Pastorin. Beide sind sich auf dem Kreuzfahrtschiff begegnet und stellen fest, dass sie eine gemeinsame geliebte Freundin haben. Es ist Marietta, Hauptfigur des Romans „Herbstgeschichte“ von Sten Nadolny (83). Eine bestechend schöne, anziehende, aparte Frau. Mehr als ein Vierteljahrhundert lebt man als Leserin des Romans irgendwie mit dieser Person. Genauso wie die drei Männer der Geschichte, die uns von Nadolny allzu versiert, aber durchaus unterhaltsam aufgetischt wird.
Ältere bis alte Herren. Dazu gehört der oben bereits erwähnte Michael, gescheiterter Politologe, dafür erfolgreicher und ziemlich bekannter Verfasser von heiteren, lebensbejahenden Erzählungen. Der zweite ist Bruno – robuster Boxer, Schauspieler, Theaterbesitzer und Marxist. Der Dritte im Bunde, der den Roman eröffnet und nach 241 Seiten auch beschließt, ist Titus, ein Fernsehspiel- und Filmautor. Drei alte Knaben, die einst die Schulbank zusammen gedrückt haben. Und man denkt sich: In diesen drei Gestalten könnte jeweils ein Stück von Sten Nadolny selbst stecken.
Eine in sich ruhende Männerfreundschaft, in der man sich im Laufe der Jahre aus den Augen verloren hat. Der Zufall treibt sie wieder zusammen; zunächst Schriftsteller Michael und Theatermann Bruno. Sie sind mittlerweile Anfang fünfzig. Im Zug nach Zürich treffen sie jene geheimnisvolle Marietta, Mitte zwanzig, in die sie sich verlieben. Ihre charakteristischen Merkmale außer ihrer Schönheit: Sie besitzt das absolute Gesichtsgedächtnis. Das macht sie bei jeder Fahndung wertvoll für die Kriminalpolizei. Ein Leben also in ständiger Gefahr, die Täter sind ihr, wo auch immer, auf der Spur. Selbst bei den Filmfestspielen in Venedig, wohin das Trio von Zürich aus weitergereist. Doch dort verschwindet Marietta. Über mehrere Jahre. Aber wieder spielt der Zufall Schicksal. Bei einer Lesung Michaels in Flensburg befindet sie sich unter den Zuhörern: eine junge Frau im Rollstuhl, gelähmt, ein ewiges Rätsel für die Medizin. Eine seltsam begonnene Liebe setzt sich ohne Erotik, aber voller Fürsorge und Kümmernis über weitere Jahrzehnte fort.
Natürlich wechseln innerhalb des Romans permanent die Zeiten. Auf besagter Kreuzfahrt trifft Michael nicht nur die Bord-Pastorin, sondern auch den alten Schulfreund und Drehbuchautor Titus: achtzig sind sie zwischenzeitlich an dieser Stelle der Geschichte. Ob aus seinen Aufzeichnungen zur Tragödie Mariettas, die in Wirklichkeit Irina heißt, Titus nicht ein Drehbuch schreiben könnte? Und irgendwann kommt auch Bruno als durch #MeToo gefallener Theaterengel wieder ins Spiel, der zu guter Letzt klammheimlich mit Marietta verschwindet. „Ich mag nun einmal, wenn Geschichten gut enden“, sagt Drehbuchautor Titus, der seinen ersten Roman schreibt. Zwischen all diesen Zeitsprüngen streut Nadolny seine Anmerkungen zu Politik und Gesellschaft. Vielleicht um im Hintergrund der Handlung das Zeitgenössische seines jüngsten Werkes zusätzlich zu behaupten? Das aber macht die Sache banal. Es bleibt also doch: Kolportage. SABINE DULTZ
Sten Nadolny:
„Herbstgeschichte“. Piper Verlag, München. 241 Seiten; 24 Euro.