„Jetzt weiß ich, wie‘s geht“

von Redaktion

Zum 90. Geburtstag von Theatermacher Dieter Dorn

„Lear“ mit Rolf Boysen in der Titelrolle. © Sternberg/Ullstein

„Troilus und Cressida“ mit Tobias Moretti (li.), Peter Lühr und Sunnyi Melles. © Picture Alliance

„Ohne Utopie sind wir aufgeschmissen“, sagt Regisseur Dieter Dorn, der an diesem Freitag seinen 90. Geburtstag feiert. „Sie formulieren, das kann nur die Kunst.“ © klaus haag

„Beruflich habe ich mit allem abgeschlossen. Jetzt führe ich ein reines Privatleben. Ich bin ungefähr die Hälfte des Jahres auf Kreta. Wenn ich dort so in der Einsamkeit lebe, entdecke ich, was die Natur Ungeheuerliches, Großes mit uns macht. Und was ich in meinem Leben, meinem Theaterleben verpasst habe.“

Der Text blieb für ihn das Wichtigste

Altern als Problem des Künstlers – das scheint Dieter Dorn nur in der Theorie zu beschäftigen, was er auch sofort mit seinem Hang zu Witz und Ironie unterstreicht: Es gebe mitunter eine Art zweite Schöpfung, die dann so einen Greis zu dem Ausruf veranlasse, „jetzt weiß ich, wie‘s geht“. Von all dem aber ist der Sachse und seit einem halben Jahrhundert Wahl-Münchner Dieter Dorn, der an diesem Freitag 90 Jahre alt wird, weit entfernt. Mit Stolz könnte er auf seine künstlerisch einzigartig gelungene Theaterkarriere zurückblicken: nach Hannover, Oberhausen, Hamburg, West-Berlin schließlich 35 Jahre Bayerns Metropole – von 1976 bis 2001 Münchner Kammerspiele und, nach einer unerfreulichen Abservierung Dorns durch die Stadt, von 2001 bis 2011 Residenztheater/ Bayerisches Staatsschauspiel. Insgesamt eine Ära, in der diese Häuser mit ihm als Regisseur und Intendant München leuchten ließen.

Doch Dorn schaut nicht zurück. Zeit seines Lebens waren für ihn die gewaltigen Texte der Dramen und die unfassbaren Begabungen seiner Schauspielerinnen und Schauspieler – darunter die längst verstorbenen Gisela Stein, Helmut Griem, Claus Eberth, Thomas Holtzmann, Rolf Boysen sowie die aktiven „Wundertiere“, wie Dorn sie nennt, Sunnyi Melles, Jens Harzer, Cornelia Froboess, Edgar Selge, Tobias Moretti, Sibylle Canonica – Quelle aller künstlerischen Intuition, allen schöpferischen Regie-Reichtums, aller produktiven Widersprüche in der Theaterarbeit. Heute verneigt sich Dieter Dorn vor der Allmacht der Natur, vor dem Meer, dem Sturm, den Wellen, dem Licht – wie er sie in natürlicher Direktheit auf Kreta erlebt. Dem Odysseus so nah.

Wenn er noch einmal eine seiner Triumph-Inszenierungen wie „Troilus und Cressida“, „Groß und klein“, „Faust“, „Merlin oder Das wüste Land“, „Cymbelin“ oder „Hekabe“ an den Kammerspielen oder wie „Der Kaufmann von Venedig“, „Der Gott des Gemetzels“, „Das Käthchen von Heilbronn“ am Residenztheater – wenn er sie also noch einmal inszenieren sollte: Würde er es wieder genauso machen? „Wahrscheinlich nicht. Man darf die Erinnerungen nicht festzurren. Nach wie vor gilt: Der Text ist das Wichtigste, dann der Ort, die Stadt, die Schauspieler.“ Es lohne sich, sagt Dorn, an die Antike zu erinnern. „Wie sich die Protagonisten von vor mehr als tausend Jahren auf ihre Aufführungen, ihre Festspiele vorbereitet, ein Jahr lang Ort und Gegebenheiten, die gesellschaftliche Lage erforscht haben. „Als eine Art Religion.“ Mit den Göttern so vertraut.

Das war Dorn doch immer auch im Theater. Wer seine Inszenierung von „König Lear“ gesehen hat (103 Vorstellungen von Februar 1992 bis 31. Dezember 1999), dem wird die Szene auf der Heide im dritten Akt nach wie vor nicht aus dem Kopf gehen, wenn nämlich der alte Rolf Boysen als verwirrter Lear von der Gewalt des Sturms nackt über die Bühne gepeitscht wird. So hat die in Kunst übersetzte Natur in den Inszenierungen Dorns immer eine Hauptrolle gespielt. Jetzt, als alter Mann, ist er von ihr im Original fasziniert. In beiden Fällen voller Demut. „Wenn wir ehrlich sind“ – so formuliert es Dorn in „Spielt weiter!“, seiner Autobiografie – „und wenn wir wirklich unseren Beruf lieben, dann ist er nicht dazu da, um viel Geld zu verdienen, auch nicht, um berühmt zu werden, sondern er ist dazu da, dass wir etwas ausprobieren können, wofür wir auch noch bezahlt werden. Eigentlich müsste jeder von uns morgens um zehn Uhr beim Pförtner dafür bezahlen, dass er fünf Stunden probieren darf, auch der Regisseur. Es ist ein kostbares Instrument, das uns die Gesellschaft zur Verfügung stellt. Es erlaubt uns, die Grenzerfahrungen des Lebens modellhaft durchzuspielen und das auch stellvertretend für die Zuschauer.“

Die ersten Eindrücke von diesem Faszinosum Theater haben ihren Ursprung in der Leipziger Kindheit. Wohnhaft zwischen Thomaskirche und Bühneneingang des Centraltheaters, die Bach-Konzerte und das Beobachten der Schauspieler auf dem Weg ins Theater oder wieder heraus gehörten zu seinem Alltag. Ein gelinder Schock für seinen Vater, den Elektriker mit eigener kleiner Firma, dass keines der drei Kinder in seine Fußstapfen treten wollte. Die Schwester wurde Tänzerin, der Bruder Musiker und Dieter, der älteste, Schauspieler.

Gegen den Drachen des Kapitalismus

Dass er 1956, mit 21 Jahren, die Leipziger Theaterhochschule und damit die DDR per Flucht nach West-Berlin verließ, hatte politische Gründe. Ein freier, unabhängiger, politischer Geist ist die Voraussetzung für ein künstlerisches Leben, das er einmal führen wollte. Eine solche Haltung ahndeten die Genossen in der Regel mit Gefängnis. Unterwerfung kam für den jungen Dorn jedoch nicht infrage. Also klammheimlich ab in die Vier-Mächte-Stadt und mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo.

Seit der Antike ist Theater ein politisches Podium. Es müsse etwas geben, sagt Dorn heute, „das sich diesem Drachen Kapitalismus entgegenstellt, anstatt sich ihm zu unterwerfen. Wir erleben es jeden Tag, dass der Kapitalismus ein zutiefst moribundes, moralisch vollkommen abgewirtschaftetes System ist. Ohne Utopie sind wir aufgeschmissen. Sie formulieren, das kann nur die Kunst.“SABINE DULTZ

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