Zehn Jahre nach der Schießerei in einer Schule erinnern sich die Überlebenden – tragen sie eine Mitschuld? Szene aus der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog. © Bettina Stoess
Am Wochenende ist es wieder passiert, in England, in einem Zug. Und alles läuft immer auf eine Frage zu: Terrorist oder Irrer? Als ob die Antwort etwas erklären, geschweige denn lösen würde. Und als ob es überhaupt ein eindeutiges Muster gibt bei diesen Attentaten. Von daher gesehen ist diese Oper riskant: „Innocence“, 2021 in Aix-en-Provence uraufgeführt, will verstehen, warum es zu einem Amoklauf kommt. Wie sehr der 100-Minüter der 2023 gestorbenen Komponistin Kaija Saariaho auf einen Nerv trifft, zeigt die Aufführungsstatistik. Nürnberg ist bereits das vierte Produktionshaus, demnächst folgt die New Yorker Met.
Die Handlung ist fiktiv. Ein Amokläufer erschießt in einer finnischen Schule neun Jugendliche. Zehn Jahre später heiratet sein Bruder, seine nichts ahnende Braut erfährt bröckchenweise von der Vorgeschichte dieser Familie – auch weil die Kellnerin der Hochzeitsgesellschaft ihre Tochter bei dem Attentat verlor. Der Mörder ist wieder frei, taucht aber im Stück nicht auf. In einem Parallelgeschehen blicken die Überlebenden zurück. Und immer mehr wird deutlich: Es gab gemeinsame Schießübungen, falsch gedeutete Zeichen, der Vater des Jungen ermutigte ihn einst zur Jagd. Zu alledem missbrauchte der Lehrer eine der Schülerinnen, die auch auf Rache sinnt. Starker Tobak – aber deswegen irreal?
Jens-Daniel Herzog, regieführender Intendant, tappt nicht in die Falle. Die Aufführung ist kein Musiktheater-„Brennpunkt“ nach der „Tagesschau“. Mit Bühnenbildner Mathis Neidhardt werden beide Erzählebenen elegant und schlüssig getrennt. Die Szene wird von einem schwarzen Kubus dominiert und bedroht, drinnen die Jugendlichen, mal an Pulten, mal im Therapie-Stuhlkreis. „Draußen“ die schick gewandete Hochzeitsgesellschaft (Kostüme: Sibylle Gädeke), die bald nur mühevoll Contenance wahrt. Eine Lichterkette, eine Tafel, viel mehr gibt es nicht. Herzog inszeniert einen reduzierten, stilisierten Realismus. Kein gestischer Überdruck, keine Hyperemotion, kein Betroffenheitstheater. Der Rhythmus zwischen (Bühnen-)Bewegung und konzentriertem Stillstand stimmt. Oft wird Richtung Publikum erzählt. Verlautbarungen, Rechtfertigungen, Zeugen-Aussagen sind das. Mit „Innocence“ schufen Kaija Saariaho sowie ihre Librettisten Sofi Oskanen und Aleksi Barrière eine Art Gerichtsverhandlung, die sich an uns, die Richter, wendet: Wie soll das Urteil also ausfallen?
Vor allem aber nimmt Herzog die Angebote der Musik auf. Die entfaltet ihre Wirkung auf subtile Weise. Eine oszillierendes Klang-Amalgam, mal emotionale Verstärkung, mal feinstofflicher Kontrapunkt zum schrecklichen Geschehen. Keine direkte, sondern eine gärende, auch melancholieumflorte Drastik. Eine Musik auch, die ihr Konstrukt oder ihre Mixturen nicht vor sich herträgt. Wie immer sind die Partituren von Saariaho nachvollziehbar, plastisch, fassbar, auf einer emotionalen Ebene erfahrbar. Und es ist höchst respektabel, wie sich die Staatsphilharmonie Nürnberg und ihr Chef Roland Böer in dieser Klanglandschaft bewegen. Es ist ein Abend, an dem man Saariaho beim Komponieren zuhört.
Dazu offeriert das Haus glänzende Singdarsteller. Julia Grüter als Braut Stela und Chloë Morgan als ihre Schwiegermutter nutzen die so kantablen wie exaltierten Vokallinien, ohne zu überzeichnen. Jochen Kupfer macht das Fassadenhafte des Schwiegervaters auch klanglich plausibel, ähnlich Martin Platz als Bräutigam Tuomas. Almerija Delic gibt die Kellnerin Tereza mit kassandrahaftem Ton. Erika Hammarberg als ihre ermordete Tochter Markéta gestaltet, wie von Saariaho gewollt, mit Musical- oder Folk-Stimme, ein ätherisches Singwesen, man kann sich diesem Gesang schwer entziehen. Wie überhaupt dem gesamten Stück, das in ungeheurer Verdichtung seinen Problemkomplex aufrollt. Dies aber nie in atemloser Theatralität, sondern ruhig, reflektiert, in oft verstörender Sinnlichkeit. Eine wichtige Aufführung, die das zeigt, was fast so schlimm ist wie das Attentat: die Zeit danach.
Weitere Vorstellungen
am 8., 16., 18. und 23. November; Telefon 0911/ 660 69 60 00.