Mit gnadenlosem Blick

von Redaktion

Natascha Wodins Lebens-Bestandsaufnahme „Die späten Tage“

Fasziniert mit ihren sauehrlichen Schilderungen des Alters – und der Liebe: Natascha Wodin. Morgen erscheint ihr Roman „Die späten Tage“. © Julius Schrank/Agentur Focus

„Mein ganzes Leben ist ein Kampf, ein Betteln um Liebe, wobei ich selbst die Lieblosigkeit in Person bin und anderen gar keine Chance gebe, mich zu lieben.“ Natascha Wodin, eigentlich Natalja Nikolajewna Wdowina – war ihrem ersten Verlag aber zu zungenbrecherisch, wie sie berichtet –, legt mit „Die späten Tage“ kurz vor ihrem 80. Geburtstag eine sauehrliche Lebens-Bestandsaufnahme in der Phase des Altseins vor. Das Buch ist keine auf Anmut getrimmte Autofiktion, ist keine Autobiografie und trotzdem irgendwie eine und ist schon dreimal keine Sentimentalität à la Ach-wie-ist-das-Seniorendasein-würdevoll.

Schmerz ist der gnadenlose Begleiter. Seelisch und körperlich hat er sich in die Frau gebohrt, obwohl sie am idyllischen Seegestade auf ein erfülltes, aber zermürbendes, ein turbulentes, aber gefährdetes, auf ein erfolgreiches Leben zurückblicken kann und darf. Die „späten Tage“, die wie ein Tagebuch mit Gedankenfetzen, Alltagsklagen, Anekdoten, Erinnerungen und Reflexionen darüber, mit psychologischen Analysen und soziopolitischen Beobachtungen anmuten, sind jedoch für die Schreibende auch ein Muss. Die Dichterin, die mit so viel Härte wie Humor und luzidem Verstand formuliert, vermag gar nicht, nicht zu schreiben.

Aus den kleinteiligen Sprach- und Erzählelementen, gespickt mit Zitaten von Anna Achmatowa bis Christa Wolf, setzt sich das Jetzt einer berühmten, alten, kranken, liebenden Künstlerin zusammen – und wie sie nach fürchterlichen Nackenschlägen und langen Durststrecken dazu wurde. Allein ihre Herkunft macht Natascha Wodin zu einer Symbolgestalt des Schmerz-Kontinents Europa. 1945 in Fürth als Kind einer ukrainischen Zwangsarbeiterin geboren, die dachte, die deutschen Nazis wären nicht so schlimm wie die russischen Sowjets. Die Verachtungs-Qual setzt sich für sie und ihre Eltern in der BRD fort. Besonders die Mutter ist gefoltert durch die Ungewissheit, was mit ihrer Familie passiert ist. Sie wählt schließlich den Freitod.

2017 kann ihre Tochter, längst die Schriftstellerin Natascha Wodin geworden, ihr mit „Sie kam aus Mariupol“ ein Denkmal setzen. Es bekam durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine eine weitere Bedeutungsebene. Im aktuellen Buch merkt man der Autorin immer wieder an, wie sie zwischen der Liebe zum Russischen und der Mutter-Heimat Ukraine hin- und hergerissen ist. Erst nach der Perestroika fand sie ihre Verwandtschaft weit im Osten Russlands. Das Fremdsein hier und dort schildert Wodin ebenfalls im Verhältnis zur DDR und BRD, zum aktuellen West- und Ostdeutschland – und zu Männern: der Geehelichte, um nicht mehr in Staatenlosigkeit ausharren zu müssen; der gute (westliche) Liebhaber, für den sie in der Sowjetunion übersetzte; der strapaziöse ostdeutsche Dichter; der wunderbare Russe; und schließlich der sechs Jahre ältere Friedrich, die letzte große Liebe, voll Zärtlichkeit und Sorge.

Wodin fasziniert mit subtilen Beziehungsschilderungen, mit der unnachgiebigen Genauigkeit, mit der sie den leiblichen Schmerz, Verfall, das nahende Zu-Ende-Gehen darstellt. Das Nachdenken über Sterben und Tod spiegeln das Nachdenken über Gott und Glaubenszweifel, Leben und Lieben. Intensiv und elegant, ohne sich philosophisch aufzuplustern, verwebt die Künstlerin diese Ebenen.

Die eingestreuten Anekdoten sind die bunten Gemälde zwischen den schwarz-weißen Grafiken. Da treffen wir etwa die junge Natascha als Stenotypistin im Büro eines bedeutenden bayerischen Fleischhändlers am Münchner Schlachthof. Es ist quasi sein Austragshäusl, in dem der leicht Demente seine wirren Briefe endlos diktieren darf, ohne entsprechend zu bezahlen. Gefährlicher ist dessen Sohn, der die Angestellte vergewaltigen will. Weil damals Männergewalt als normkonform galt, wird der Widerspenstigen gekündigt. Oder da ist der gewagte Ausflug durch den Schneesturm in ein Dolomiten-Tal. Dort verliebt sich die ukrainisch-russisch-deutsche Frau in Marie; Leidenschaft mit Betonung auf Leiden. Wenn die Südtirolerin Klavier spielt, werden Musik und Marie für Natascha eins. So vielfarbig erzählt Wodin die aktuellen Liebesturbulenzen mit Friedrich; und genau die bleiben „jung“, selbst im Alter. SIMONE DATTENBERGER

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