Probe in der Birmingham Symphony Hall: Simon Rattle war an der Entwicklung des Saales beteiligt. © Astrid Ackermann/BR
High Five für einen kleinen Fan hinter der Bühne in Birmingham. © Ackermann/BR
„Oh, so viele Haare“: Rattle Anfang der Achtzigerjahre in Birmingham. © Alan Wood
In Erinnerungen schwelgen: Rattle im Eurostar von London nach Paris. © Ackermann
Harry Atkinson vom BRSO, seine Eltern spielten unter Rattle in Birmingham. © BR
Kurz vor dem Tunnel kehrt endlich Ruhe ein. Mit 320 Sachen rast der Eurostar Richtung Ärmelkanal, weg von der Heimat, nach Paris. Und Simon Rattle, Querstreifen-Pulli in Grüntönen, sitzt in Wagen sieben und blickt zurück. Ein Album mit Kinderfotos, alten Zeitungsberichten und Briefen hat er mitgebracht, sein Vater hat das alles gesammelt. „Oh, ein Typ mit so vielen Haaren.“ Ein paar Mal fällt der Satz, als er die Fotos durchblättert. Seine Mutter habe seine Locken nicht gemocht. Die Haare sollten kürzer sein, manchmal musste er sie plätten. „Doch sobald sie trocken waren, plopp, waren die Locken wieder da!“
Keine normale Tournee ist das, sondern ein Trip in die Vergangenheit. Mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, seinem BRSO, reiste Rattle erst an seinen Geburtsort Liverpool (wir berichteten), wohin er kaum mehr kommt. Noch immer erstaunt ihn, was in dieser einst kleinen Großstadt musikalisch möglich war, und das betrifft nicht nur die Beatles: „Liverpool ist wie ein Asteroid!“
Zweite Station dann Birmingham, wo er das dortige Symphony Orchestra in 18 Jahren auf Weltklasse-Niveau brachte. Und es ist nur zu ahnen, was dem Dirigenten in den vergangenen Tagen durch Kopf und Herz schwirrte. „Exciting. Touching. Very emotional.“ Immer wieder diese Worte. Und: „Ich war wie ein Wrack, als ich vom Flughafen mit dem Auto auf einer Extrarunde durch Liverpool gefahren wurde.“
Birmingham, Tourstation Nummer zwei, ist Architektur-Allerlei. Neogriechischer Tempel, Hochhäuser wie aus dem Lego-Kasten. Die Kathedrale duckt sich weg, drum herum der „Frankfurter Weihnachtsmarkt“, die Hessen sind Städtepartner. Rattle war maßgeblich an der Entwicklung des 1991 eröffneten Konzertsaals beteiligt. 2260 Plätze, pures Imponiergehabe. „Birmingham war am Boden durch den Niedergang der Autoindustrie“, sagt Rattle. Doch dann gab es Politiker mit Weitsicht: Wie machen wir die Stadt attraktiv? Antwort: mit einem neuen Kern, mit einem „Conventional Center“. Fußgängerzone, Shops, Cafés, Restaurants und eben der Saal. Politik und Kultur zogen an einem Strang, Geld gab es zur Genüge, im Vergleich zur verschleppten Münchner Konzerthaus-Debatte (siehe unten) für Rattle das Paradies.
Die Bauzeit betrug nur fünf Jahre, berichtet Edward Smith stolz, der an der Konzeption beteiligt war. „Das Klassikpublikum verdreifachte sich.“ Rattle kennt er seit über 40 Jahren. Wie alle Weggefährten bestätigt Smith: Der Dirigent habe sich nicht verändert, ein typischer Liverpudlian. „Schlau, schnell, relaxed, charmant, humorvoll – und er hat eine schnelle Antwort auf alles.“ Jetzt steht Rattle wieder auf der Bühne, auf der er einst das City of Birmingham Symphony Orchestra lenkte. Der Chef feilt mit den Münchnern an Details des Vortagsprogramms, das hier wiederholt wird. Strawinskys „Feuervogel“ kann sich im monumentalen Saal besser entfalten. Schumanns Zweite wird zu sportlich-erfüllten 40 Minuten. Rattle verlangt enorme Flexibilität bei hohem Tempo, das BRSO schenkt ihm so gut wie alles. Der Jubel ist fast größer als in Liverpool. Erneut wendet sich Rattle an „sein“ Publikum: Wie fantastisch es doch sei heimzukommen. Im Orchester sitzt auch der 26-jährige Harry Atkinson. Der Kontrabassist ist seit Kurzem dabei, seine Eltern spielten unter Rattle im Orchester von Birmingham. Voller Stolz sitzen sie nun im Saal, später darf auch Atkinsons Patentante mit aufs Rattle-Foto.
Dritte Station ist London. Viele Musikerinnen und Musiker ziehen ihre Koffer durch den morgendlichen Regen zum Birminghamer Bahnhof, nachdem die Zubringerbusse zu spät kamen. Die Hauptstadt präsentiert sich dann überraschend spätsommerlich, die Londoner sitzen vor den Cafés und Restaurants. Abends die Erfahrung: Der Konzertsaal ist akustisch eine harte Nuss. Wer nicht aufpasst, dem fällt der Klang in dieser Riesen-Aula vor die Füße. Rattle bittet darum, Töne und Klänge zu verlängern, alles mehr auszuspielen. Zu Beginn der Probe setzt er sich in den Saal und lässt den Beginn von Bruckners Siebter von einem Assistenten dirigieren.
Die erklingt im Konzert wie mit klarem Wasser gespült. Inhaltsreich, aber nicht bedeutungsschwanger. Schwebeleicht, aber nicht oberflächlich. Und nach Janáčeks „Taras Bulba“ wie in anderem Licht erglühend. Auch hier Jubelrufe und Pfiffe, obwohl die Londoner auch sauer sein könnten auf Rattle. Das Symphony Orchestra hat er nach kurzer Zeit verlassen, um nach München zu wechseln. In der britischen Hauptstadt hatte man ihm einen Konzertsaal versprochen – und dann alles gestrichen. Sir Nicholas Kenyon, früher Manager des Barbican Centre, lädt zum kleinen Empfang vor dem Konzert in die Fördererlounge. Er glaubt, dass Rattle außerdem durch den Brexit vertrieben wurde.
Der verneint diese Eindeutigkeit, hält das Votum aber weiter für einen der größten Fehler der britischen Historie. Doch da gab es eben auch diese starke Anziehungskraft des BRSO. Jetzt, im Eurostar auf dem Weg zu den nächsten Stationen in Frankreich, Luxemburg, Deutschland und Spanien, kokettiert Rattle. Er habe die Münchner Position nie angestrebt. „Aber jeder, der mich mochte, sagte: Du musst dieses Orchester übernehmen.“ Derselbe Satz, den Rattles 2019 verstorbener Vorgänger Mariss Jansons von seiner Frau Irina zu hören bekam. „Und nun bin ich froh, dass es so endet. Was für ein Geschenk.“