Papa aus dem Sack: Dmitry Ulyanov (Tschub). © Schied
Ist die Hexe bald gar? Matti Turunen (Pazjuk) und Ekaterina Semenchuk (Solocha) in der Inszenierung von Barrie Kosky. © Geoffroy Schied
Anna Göldi hieß sie, es geschah 1734 in der Schweiz. So lange ist die letzte Hexenverbrennung also gar nicht her. Und kurz flammt das Thema auf, wenn kein Tier am Spieß gedreht wird, sondern, umgeifert vom Chor, eine Skelettfrau – sie trägt Kleid und Perücke der weiblichen Hauptperson Oksana. Ein Moment nur, Anspielung auf Historisches, Gipfelpunkt eines Albtraums, der Humor in den Raunächten ist halt derb. Und hier, schließlich gilt’s eine Wohlfühloper zu feiern, auch gleich wieder vergessen.
Das Stück gehört auf jede Opernbühne
Das ist das Ergebnis dieser Premiere: „Die Nacht vor Weihnachten“ gehört dringend auf die Bühne, am besten auf jede. Nikolai Rimski-Korsakow ist an der Bayerischen Staatsoper nur einmal gespielt worden, eine moderne Verfremdung seines „Schneeflöckchens“. Für sein Dezemberstück, das nichts mit dem Christkind zu tun hat, sondern mit der Wintersonnenwende, griff er beherzt ins (ukrainische) Volksliedleben. Arien gibt es eigentlich nur zwei, sie sind Oksana vorbehalten, dafür tanzbare bis machtvolle Chöre, eine Perlenkette an bizarren Kabinettstückchen, überhaupt ein Ensemble auf Dauerplapperstufe. Nur in instrumentalen Zwischenspielen, reinste Magie sind die, beruhigt sich alles.
Die Handlung ist wie immer im Märchen ein Fall für die Logikpolizei. Als da wären eine grelle Alte, die sich aufs Spiel mit dem Teufel einlässt, erotischer Magnet für die Honoratioren des Dorfes ist und auch deshalb als Hexe tituliert wird. Vor allem aber ein Liebhaber, Wakula, den seine Oksana zappeln lässt. Sie will von ihm die Schuhe der Zarin, was mithilfe des Teufels tatsächlich gelingt. Schon zur Ouvertüre werden die Glitzerpumps im Chor herumgereicht, Regisseur Barrie Kosky platziert gleich mal ein szenisches Leitmotiv.
Ansonsten gibt er mit Bühnenbildner Klaus Grünberg die Manege frei. Dörfler treffen sich da im mehrstöckigen Zirkusrund mit Mephisto als Direktor. Ob Kleidung oder Zwischenvorhang: Die Farben bewegen sich zwischen ausgebleichtem Violett und ebensolchem Graubraun, der Weiler hat bessere Zeiten gesehen, ein Kunstpelz ist das Höchste der Gefühle (Kostüme: Klaus Bruns). Umso mehr wird gefeiert. Kosky gibt wie immer den hochversierten Ensemblebändiger und Animateur. Ein Stück, angeschrillt und auf der schiefen Ebene, das bleibt seine Lieblingsbaustelle.
Aller Schauwerte und Vollbeschäftigung zum Trotz: Vor der Pause rotiert die Aufführung auch ins Leere. Der Frohsinn ist manchmal behauptet, die Ausgelassenheit penetrant, die Scherzkekse schmecken schal. Was für Kosky einnimmt: Die Naivität des Stücks wird in all ihrer Fülle ausgestellt. Dieser Regisseur sucht nicht nach (Beweg-)Gründen, wo Rimski-Korsakow und Vorlagedichter Nikolai Gogol gar keine liefern wollten. Und doch: Ob man den Figuren beikommt, wenn man sie in die Karikatur, ins Flachrelief treibt?
In München, eine Stärke Koskys, gibt es Handgemachtes. Die Gehilfen des Teufels schmeißen Schneeflocken. Und als Reminiszenz ans barocke Maschinentheater fährt Violeta Urmana als stimmsaftige Zarin aus dem Schnürboden hernieder, ein Coup. Überhaupt darf sich Kosky erneut bei seinem Dauer-Choreografen Otto Pichler bedanken. Die Ballettnummern sind so originell wie fantasievoll, erst recht im (viel besseren!) Teil nach der Pause. Ein szenisches Crescendo, das mehr aufs Herz zielt. Da kippt alles ins Theater auf dem Theater, zwei Akrobatinnen vollführen Wildes an Vertikalseilen, Oksana singt ihre zweite Arie vor einem Riesenmond.
Elena Tsallagova tut das mit dunkler Lyrik und dramatischem Potenzial, ein paar Verhärtungen hört man auch. Sergey Skorokhodov singt einen beherzten Wakula, als einfacher Mann aus dem Volk braucht man vielleicht kein vokales Edelmetall. Auch auf allen übrigen Positionen fährt die Staatsoper Charakterköpfe vom Feinsten auf. Etwa Sergei Leiferkus, als Dorfvorsteher noch immer prächtig bei Stimme. Auch Dmitry Ulyanov als so wuchtiger wie präziser Oksana-Vater Tschub. Oder Ekaterina Semenchuk als „Hexe“ Solocha, eine selbstironische Bizarrkomikerin. Tansel Akzeybek ist ein Tänzel-Teufel, tenoral kann er es locker mit der männlichen Hauptrolle aufnehmen. Der Chor, schließlich hat er eine Zentralfunktion, singspielt hochmotiviert wie selten.
Vladimir Jurowski ist an solchen Abenden immer am überzeugendsten: wenn er Riesenpartituren lichten und zuspitzen darf, wenn er die Eigen-Energie eines Stücks nutzt und kanalisiert. Der Klang des Bayerischen Staatsorchesters ist geschärft und fettarm, kein Takt tönt nach Klischee. Subtil werden christliche Warm-ums-Herz-Klänge und herbes heidnisches Brauchtum überblendet: In der Musik ist das möglich, und auch beim händchenhaltenden Final-Ensemble. Eine Feier der Toleranz, Minuten zwischen Wunsch und Utopie – wenn Märchen eben wahr werden. MARKUS THIEL
Nächste Vorstellungen
am 4., 7., 10., 13., 19., 22. Dezember; Telefon 089/ 2185-1920.