AUSSTELLUNG

Chronik des Grauens

von Redaktion

Berlin zeigt mit „Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen“ die Genese des TV-Projekts „Shoah“

152 Audiokassetten dokumentieren die Vorbereitung auf die Ausstellung. © R. März

Claude Lanzmann, Regisseur und Journalist. © JOEL SAGET

Das Jüdischen Museum Berlin bietet im abgedunkelten Saal ein Erlebnis der besonderen Art. © Jens Ziehe

Als sich Claude Lanzmann Anfang 1978 zum ersten Mal nach Polen begab, um an den Orten der Vernichtung der polnischen Juden im Zweiten Weltkrieg durch die Deutschen seine Studien für die geplante Verfilmung fortzusetzen, hatte er wohl all das Wissen darüber im Kopf. Aber die Gegenwärtigkeit der Geschichte, mit der er dort konfrontiert war, die Begegnung mit Zeitzeugen, die Begehung der Stätten des Grauens, traf ihn mit „unerwarteter Wucht“. Polen war die letzte Station seiner Recherche-Reise. Und es wurde die erste für die Dreharbeiten zu seinem epochalen Meisterwerk „Shoah“.

Der zweiteilige, neunstündige Dokumentarfilm, der 1985 in Paris uraufgeführt wurde und 1986 im deutschen Fernsehen (wenn auch nur in den Dritten Programmen) zu sehen war, er war von kolossaler Wirkung. Lanzmanns Film verzichtet ganz und gar auf HorrorAufnahmen, auf filmische Dokumentationen von der Befreiung der Konzentrationslager 1945. Kein einziger Toter ist zu sehen, jegliches historisches Bildmaterial fehlt.

Es sind die Gespräche mit überlebenden Opfern, mit Zeugen des Geschehens und mit Tätern, und es sind die Kamerafahrten an den einstigen Orten des Grauens, denen der Film seine emotionale und intellektuelle Eindringlichkeit verdankt. Im Jüdischen Museum Berlin ist jetzt eine hochinteressante Ausstellung zu bestaunen: „Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen“. Sie widmet sich der Vorarbeit zu „Shoah“. Bereitgestellt sind die aufgezeichneten Gespräche, die größtenteils im Film Verwendung fanden. Man erfährt, dass einige Zeitzeugen es ablehnten zu sprechen, andere sich zwar auf das Gespräch einließen, aber nicht wollten, dass sie im Film vorkämen, wiederum andere ihre Erinnerungen zur Verfügung stellten, als seien sie froh, für die Nachwelt nicht vergessen worden zu sein.

Der Besuch der Ausstellung ist ein Erlebnis. Vor Betreten des dunkel gehaltenen Saales empfiehlt es sich, sich mit einem Audioguide auszustatten. In angemessener Distanz sind diverse Video-Stelen platziert, unter deren Bildschirm in sechs Spalten die verschiedenen Sprachen erscheinen, in denen die Zeitzeugen erzählen.

Die Schau ist in sechs Kapitel unterteilt: von der über mehrere Jahre sich erstreckenden Recherche mit einem Gespräch der damaligen Assistentinnen Lanzmanns, Corinna Coulmas und Irena Steinfeldt-Levy, über die Ghettos in Litauen bis zu den Tätern in Deutschland, von denen nur wenige bereit waren, sich den Fragen auszuliefern. Mit dieser Ausstellung wird das Ton- und Bildmaterial der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Es ist ein erster Teil der Privatsammlung Lanzmanns, die über die Vorbereitung zu seinem Film aus 152 Audiokassetten besteht und 2021 als Schenkung an das Jüdische Museum Berlin übergeben wurde. Seit 2023 gehört die Sammlung Lanzmann zum Unesco-Weltdokumentenerbe. Was die Besucher in Berlin zu hören und zu sehen kriegen, ist nur der Anfang des umfangreichen „Shoah“-Vorbereitungsarchivs. Insgesamt handelt es sich um 220 Stunden Tonmaterial. Bis Ende 2027 soll der Verlauf der Veröffentlichung abgeschlossen sein.

Die Ausstellung zum jetzigen Zeitpunkt ist ein würdiger Anlass, den herausragenden französischen Journalisten und Filmemacher anlässlich seines 100. Geburtstages zu ehren. Lanzmann wurde am 27. November 1925 in Bois-Colombes bei Paris geboren, war als Jugendlicher in der Résistance aktiv, studierte nach dem Krieg in Tübingen Philosophie und lehrte an der Freien Universität Berlin, wurde nach seiner Rückkehr nach Frankreich enger Freund von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, arbeitete als Journalist und ab den Siebzigerjahren als Dokumentarfilmer.

Am 5. Juli 2018 ist er in Paris gestorben. Seine Erklärung zu den Vorarbeiten für seinen Film „Shoah“: „Man muss wissen und sehen, und man muss sehen und wissen. Das eine ist nicht vom anderen zu trennen.“ Es ist die beste Empfehlung für diese grandiose Ausstellung.SABINE DULTZ

Bis 12. April 2026,

täglich von 10-18 Uhr, Eintritt frei; im Begleitprogramm u.a. Filmvorführung von „Shoah“ am 10. und 11. Januar sowie am 7. und 8. März 2026; weitere Infos: jmberlin.de/lanzmann.

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